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Der sogenannte historische Roman nimmt sicherlich eine Sonderstellung im weiten Felde der epischen Erzählkunst ein. Zweifellos können wir im Zusammenhange mit seiner literarischen Phylogenese von einem Pfropfreis des romantischen Romanes sprechen; bezeichnete die romantische Dichtung doch schon seit jeher eine liebende Hingabe zur Vergangenheit, welche jedoch zunächst noch von einer wirklichkeitsfernen und höchst romantisierten Stilisierung geprägt wurde. Auch gab es mit Gewißheit bereits vor dem 18. Jahrhundert einige epische Werke, welche sich in irgendwelcher Weise auf die Geschichte und deren individuelle Darstellung bezogen, und wir wollen, da dies zu weit führen würde, nicht näher darauf eingehen. Ein Großteil aus der Gesamtheit jener literarischen Œuvres, welche sich irgendwelcher Stoffe aus der Historie bedienten, gehörte sicherlich der Gattung der Bühnenwerke und somit dem dramatischen Fache an – man denke hierbei nur an die großen Geschichtsdramen Schillers oder Goethes – oder setzten sich mit nicht eindeutig belegbaren, historischen Begegnissen aus der Sagenwelt oder dem Reiche der Mythologie auseinander.
Erst unter dem Einflusse von Walter Scott
[1] konnte sich, gleichsam aus dem Schoße der Romantik, jene Romangattung, die wir heute namentlich als den europäischen, historischen Roman bezeichnen, entwickeln. Zum Erstenmal konnte – was die Darstellung der historischen Ereignisse insbesondere, aber auch die Art und Weise des Erzählens an sich betraf – eine deutliche Hinwendung zum Realismus beobachtet werden, und zwar insoferne, als Scott es versuchte, seine Protagonisten auf einem genau recherchierten, historischen Hintergrund auftreten zu lassen – die Ereignisse also weniger fiktiv oder mythisch, sondern vielmehr authentisch waren. Er benutzte die Historie gewissermaßen als fertige Bühne, auf der er nun die handelnden Personen gleichsam auftreten ließ. Auch die letzteren fand er, eingebettet in ihre jeweiligen Epochen, genugsam in der Geschichte vor; nun definiert die romantische Romanlehre [2] den Begriff « Roman » aber so, daß derselbe sich von « romantisch », also gewissermaßen ex definitione, herschreibt. Mit anderen Worten würde eine exakte Wiedergabe der geschichtlichen Tatsachen sowie deren Personen allenfalls einem Geschichtswerke gleichen, das lediglich darüber reflektiert, was wir aufgrund von Überlieferung und Forschung von der Vergangenheit wissen können. Auf welche Art und Weise sich die jeweiligen Persönlichkeiten allerdings in ihrer jeweiligen Umwelt, innerhalb jener natürlichen Grenzen von Distinktion und Landschaften bewegten, läßt sich indessen nur durch die Fiktion erfassen – einer gewissermaßen reellen Fiktion allerdings, welche unter Berücksichtigung von empirischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen die Fiktion solcherart darstellt, als ob sie ungeachtet der Unmöglichkeit, einen unmittelbaren Einblick in die privaten Lebensverhältnisse jener Personen oder über die authentischen Zustände ihres Lebensraumes erhalten zu können, Realität könnte gewesen sein; niemals werden wir imstande sein, festzustellen, ob sich eine bestimmte historische Person nun in einem bestimmten Augenblicke des alltäglichen Lebens so oder anders verhalten habe, obgleich man möglicherweise durchaus über einige allgemeine Kenntnis gewisser Charaktereigenschaften oder Gewohnheiten derselben Personen verfügen mag. Wenn wir beispielsweise zu wissen glauben, daß, wie in Scotts Roman « Quentin Durward » geschehen, der damalige französische König Ludwig XI. als von verschlagener Schläue und äußerst listenreich dargestellt wird und dergleichen auch durchaus geschichtlich belegbare Charakterzüge des Königs gewesen sein mögen, so vermöchten wir dennoch niemals mit Bestimmtheit zu behaupten, ob er in einer ganz bestimmten Szene des Romanes seinen Astrologen Martius Martival eines von demselben begangenen Fauxpas wegen wirklich zu hängen beschloß. Nicht zuletzt aber rechtfertigt die Fiktion jener natürliche Umstand, daß Geschichte in ihrer Gesamtheit niemals gänzlich frei von eitel subjektiver Fiktion sein kann, weil sie ja vom jeweiligen Schreiber oder Forscher notwendigerweise – selbst bei dem allergrößten Bemühen um Objektivität – das jeweilige Persönlichkeitsgepräge aufgedrückt bekommt; denn die wenigsten, welche die Historie jemals wahrhaft begreifen, werden sie wirklich und wahrhaft in allem so darstellen, wie sie sich vor dem forschenden Auge der wissenschaftlichen Wahrheit abgespielt haben mag – denn erstens erscheint sie in jedem Auge etwas anders – und dann ist es eben doch der natürliche Hang des Menschen zum Wahren und Guten, der uns Geschichte gleichsam unter dem schönen Lichte der Wahrhaftigkeit betrachten läßt! Geschichte wird also niemals wahrhaft Geschichte sein können, wo der Historiker nicht auch zugleich Philosoph ist; denn weder läßt sich Geschichte alleine durch Jahreszahlen und Chronika widergeben – noch wird man den Geist derselben erfassen, wo man nicht zunächst seine eigene Zeit recht begreifen gelernt hat! Denn nur wer die Menschen und die Umstände seiner eigenen Zeit kennt und begreift – nur er wird einst dazu taugen, ein wahres Konterfei jener vergangenen Epochen gestalten zu können – nur wer die Wahrheit dieser Zeit kennt, wird auch die Wahrheit in jener zu erkennen befähigt sein!
Sprachen wir vorhin von einer reellen Fiktion, so bezeichnet dies in der poetologischen Analogie nichts Anderes denn einen romantischen Realismus. Den Realismus verkörpert in unserem Falle die Geschichte; dennoch hat Scott nie gezaudert, die historischen Tatsachen, falls es die Umstände erforderten, zugunsten des Zweckes des Romanes aufzuopfern. So werden in seinen Romanen häufig fiktive Personen zusammen neben historischen Persönlichkeiten dargestellt. Auch wohl werden zuweilen gewisse Anachronismen festgestellt: dies hat allerdings keineswegs mit einer ungenügenden Kenntnis des Erzählers mit dem erwählten Stoffe zu tun; vielmehr fordert der Zweck des Romanes es zuweilen, daß bestimmte historische Begebenheiten zugunsten der Handlung modifiziert oder aber zeitlich verschoben werden müssen, um dem Handlungsablauf voll und ganz zu entsprechen. Glaube hier nur ja etwa niemand, der Verfasser sei mit seinen Wissenschaften so wenig vertraut, als daß er nicht wüßte, wie die Dinge sich nun in der Tat verhalten haben mögen! In diesem Punkte ist es Scott allerdings, wie jedem rechten Schreiber von historischen Romanen, weniger um eine wissenschaftliche als vielmehr um eine moralische Wahrheit der Geschichte zu tun; die Geschichte nämlich, insoweit sie Wirklichkeit war, dient nur gleichsam als Kulisse, vor welcher sich die verschiedenen Menschenschicksale wechselweise abspielen. Die moralische, die spirituelle Wahrheit allerdings muß der Dichter stets selbst zur Wirksamkeit und Entfaltung bringen; ist es doch mitnichten möglich, das geistige Leben, wie es jeder einzelne von uns führt, jemals ganz in die Historie zu bannen! Der rechte Schreiber von historischen Romanen wird demnach also das in der Geschichte Unausgesprochene kraft seines imaginären Geistes gleichsam hinzufügen, die Insuffizienz der Geschichte als solches also mit der Wahrhaftigkeit des Geistes gleichsam zu durchdringen suchen; diese Operation könnten wir in gewisser Weise auch als das historische Imago bezeichnen.
Haben wir nun die Theorie des europäischen Historienromanes, als dessen Begründer zu gelten Scott aus mancherlei Gründen Anspruch erheben darf, in einigen wesentlichen Punkten erörtert, so sei hier noch auf einige Umstände verwiesen, welche sich enger an den Namen des Sir Walter Scott knüpfen. Nachdem er sich zunächst, wie manch anderer Dichter, als Balladen- und Volksdichter versuchte, der unter anderem auch einige Balladen Goethes und sogar dessen « Götz von Berlichingen (mit der eisernen Hand) » übersetzte und eine Sammlung schottischer Volksballaden (« The minstrelsy of the Scottish border ») nach dem Vorbilde von Arnims und Brentanos « Wunderhorn »-Sammlung herausgab, fand er im historischen Roman schließlich das ihm eignende Medium, sein großes Erzähltalent zu entfalten. Sein 1814 erschienener Roman « Waverly » bildete den Auftakt zu einer 27bändigen Romanserie (« Waverlyromane »), zu deren bekanntesten « Ivanhoe », « Kenilworth » oder aber auch « Das Herz von Midlothian » oder « Quentin Durward » zählen. Goethe beispielsweise kann Scott in seinen « Eckermanns Gesprächen » gar nicht genug loben ob seiner großen Sicherheit und Gründlichkeit in der Zeichnung, die aus seiner umfassenden Kenntnis der realen Welt hervorgehe, und auch Victor Hugo, der vielleicht bedeutendste französische Romancier, verliert so manch bewunderndes Wort über das « Genie » Scott. In seiner Nachfolge sind daher manche Repräsentanten des Historienromanes auf den Plan getreten – ein Trend übrigens, der sich bis in unsere Tage fortgesetzt hat. Zwar gibt es heute nur mehr ganz wenige Autoren von Rang wie etwa Umberto Eco, Noah Gordon aber auch Feuchtwanger, die den historischen Roman pflegen und die auch jene anerkannte Popularität eines Dichters innerhalb der Allgemeinheit in Anspruch nehmen können. Indessen ist dies aber noch keineswegs das Beste, was auf dem Gebiete des historischen Romanes geboten wird; so mancher Historienroman, der sich gegenwärtig noch im Dornröschenschlafe wiegt, wird sich in fernern Tagen aus der Versenkung erheben, um zu zeigen, daß auch unser Zeitalter – unberührt von den Moden und Geschmacklosigkeiten des vorherrschenden Zeitgeistes und ganz in der Nachfolge der Alten – noch Großartiges auf dem Felde des historischen Romanes zu leisten vermag.
                                                                 

 

[1] Sir Walter Scott (1771-1832) war Rechtsanwalt und Richter in Edinburgh und ließ sich in mittelalterlichem Stil Schloß Abbotsford am Tweed erbauen. Durch den Bankrott seines Verlegers geriet er in größte finanzielle Verlegenheit, die er zwar überwand, welche jedoch zu seinem körperlichen Zusammenbruch führte. Sein Einfluß auf die Literatur war bedeutend und zeitigte eine nachhaltige Wirkung bis in unsere Tage.
[2] Dazu heißt es bei Friedrich Schlegel in seinem « Gespräch über die Poesie », zuerst erschienen im « Athenäum » : « Sie verlangten gestern, da der Streit eben am lebhaftesten wurde, eine Definition, was ein Roman sei ; mit einer Art, als wüßten Sie schon, Sie würden keine befriedigende Antwort bekommen. Ich halte dieses Problem eben nicht für unauflöslich. Ein Roman ist ein romantisches Buch. – Sie werden das für eine nichtssagende Tautologie ausgeben. Aber ich will Sie zuerst nur darauf aufmerksam machen, daß man sich bei einem Buche schon ein Werk, ein für sich bestehendes Ganze denkt. Alsdann liegt ein sehr wichtiger Gegensatz gegen das Schauspiel darin, welches bestimmt ist, angeschaut zu werden : der Roman hingegen war es von den ältesten Zeiten für die Lektüre, und daraus lassen sich fast alle Verschiedenheiten in der Manier der Darstellung beider Formen herleiten. Das Schauspiel soll auch romantisch sein, wie alle Dichtkunst ; aber ein Roman ists nur unter gewissen Einschränkungen, ein angewandter Roman. Der dramatische Zusammenhang der Geschichte macht den Roman im Gegenteil noch keineswegs zum Ganzen, zum Werk, wenn er es nicht durch die Beziehung der ganzen Komposition auf eine höhere Einheit, als jene Einheit des Buchstabens, über die er sich oft wegsetzt und wegsetzen darf, durch das Band der Ideen, durch einen geistigen Zentralpunkt wird ».    



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