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Mein getreuer Freund,

nicht mehr vermag ich den Gedanken an die Wahrheit aus meinem Kopfe wegzubannen, die göttliche, ewigwaltende; und nachdem Du ja selbst in Deinem Briefe bedeutungsvoll äußertest, daß Wahrheit ein Kind der Erkenntnis, erscheint es mir als von höchster Notwendigkeit, mich in dieser kurzen Epistel jenem teuren und unverbrüchlichen Begriffe der Wahrheit, wie er in dem Menschengeschlechte überhaupt wirksam und rege und ewig nach Befreiung ringt, mit dem geheiligtesten Ernste zuzuwenden.
Der Weg zur Wahrheit – obschon in den mannigfaltigsten Erscheinungen und Gestaltungen begriffen – er ist nur außerordentlichen Naturen vorbehalten und infolgedessen zumeist ein in allerhöchstem Maße leidvoller und schwer zu beschreitender. Per aspera ad vero wäre hier ebensowohl passend, als jenes geistvolle Epigramm jeglichem Dinge anstehen mag, welches nur auf beschwerlichem Wege errungen sein will. Alleine der Begriff Wahrheit versinkt hier gleichsam ins Unendliche der Gottheit selbst, deshalb auch das fortwährend Bedingte und Veränderliche, welches der menschlichen Auffassung derselben anhaftet.
Die erste, jungfräuliche Dämmerstunde der Wahrheit wird daher auch als Veränderung begriffen; sie beginnt eben in demselben Augenblicke, als man zunächst sein eigentlichstes Leben als unzureichend und unzulänglich erkennt und ihm um deswillen hinlänglich Vergeistigung und Beseeligung abspricht, um in gleicher Weise einen Mangel an Wahrhaftigkeit, welche ja wiederum durchgehends von Geist und Beseeltheit durchdrungen ist, festzustellen. Dieses erste, gleichsam noch kindlich-unwissende Ahnen der Wahrheit, welches wir in diesem Stadium noch als eine mindere Form des Bewußtseins, ja eigentlich des Selbstbewußtseins annehmen mögen, muß nun in einer Art und Weise fühlbar werden, welche irgend nur leidvoll ist: Die Umstände, welche dieses jähe Erkennen hervorrufen, können indes die durchaus unterschiedlichsten sein! Die Ursache jedoch, jener gemeinsame Nenner, welcher jeglicher dieser geistigen Betrachtungen, dieser eigentlichen Philosopheme zugrunde liegt, ist immer und überall dieselbe: Ein zehrendes Ungenügen an sich selbst, ein ungeheures existentielles Vakuum, eine erdrückende Leere, der innigste, zitternde Wunsch, sein Leben mit Wahrheit zu durchdringen und zu beseeligen. Wer erinnert sich da nicht mit heimlichem Schaudern jener ersten Tage der Dämmerung, an welchen man es noch als ein beinahe Unbewußtes nur im Geheimen ahnete, was in einem selbst vorging, man sich das Eigentliche noch nicht verständig und verdeutlicht vor Augen zu führen vermochte; wer besinnt sich nicht mit heiligem Entsetzen all jener Nächte, allwelche er schlaflos, mit überwachtem, brennendem Auge im Bette zugebracht, sich qualvoll wälzend von einer Seite auf die andere, da er fühlte, daß sich eine geheime Kraft in seinem Innern auf das lebhafteste Bahn zu brechen bemüht war, ein Umstand, welchen man nun als ein fast Krankhaftes, als Depressionen oder ähnliche pathologische Erscheinungsbilder interpretieren zu müssen glaubte, weil es in uns eine solch unaussprechliche Qual verursachte! Woher nur diese fast verinnerlichte Verzweiflung, all diese Sehnsüchte und unbeschreiblichen Ängste, woher nur diese den geschwächten, ermüdeten Leib erschütternden Konvulsionen eines Innern, das gleich einem auf das äußerste aufgestauten Vulkan zu einem eruptiven Ausbruche drängt und sich, jäh und plötzlich, in einem Sturz von Tränen und Leid auflöst!
Nichts von alledem ist da irgend krankhaft oder unnatürlich, nichts ist hier etwa der psychologischen Behandlung oder Aufsicht bedürftiger als all diejenigen, die jenes heilige Gefühl des Sich-Selbst-Befreiens von aller Botmäßigkeit des Gemeinen und Minderen noch nie an sich selbst verspürt haben! Die Wahrheit nämlich wird nicht auf den Agoren der Gewöhnlichkeit und Mediokrität gefeiert und noch weniger erworben; sie will in innerlichster, kontemplativer Anschauung seiner Selbst, durch Bewußtwerdung und Durchdringung seiner Selbst mit Erkenntnis, errungen werden. Natürlich ist jene Wahrheit, so wie wir sie empfinden, beständigen Fragen und Zweifeln ausgesetzt, wurde sie doch schon seit jeher hier als theologisch, dort als philosophisch, anderswo wieder vorzüglich als rational-reflektierend interpretiert; was sie indes mit jenen sämtlichen, heterogenen Auslegungen immer gemeinsam hatte, war eine gesteigerte und transzendente Sichtweise der Dinge, welche es für den Nichtwissenden unmöglich macht, sie ihm etwa greifbar zu machen oder auch nur greifbar erscheinen zu lassen. Auch hier wird wiederum nur der Eingeweihte, also jener, welcher selbst durch mancherlei Leiden und geistige Studien sämtlicher Lebensbereiche, durch Beobachtung und Selbstbeobachtung, durch Perzeption und Apperzeption, ja endlich durch jenes unentwirrbare Chaos von Sympathie und Antipathie zu einer Anschauung jenseits einer kleingeistigen und stofflich eng gebundenen Betrachtungsweise gelangt ist, den Eingeweihten erkennen. Die Wahrheit indessen ist und bleibt das, was sie ist: jenes Damoklesschwert, das gleichsam segenreich und vernichtend gleichermaßen zu unseren Häupten schwebt! Menschliche Wahrheit nämlich, soweit sie eben unserem durchaus menschlichen Denken und Handeln frommt, wird sich stets unter der unbestritten notwendigen Konzilianz und Nachgebigkeit zu einem Segen für das Menschengeschlecht überhaupt gestalten und ordnen – denn hier tritt der Mensch gleichsam als >Philalethes<, als Freund der Wahrheit, als Wahrheitsliebender auf, dem sie willige und gehorsame ancilla ist!
Gefährlich aber ist und bleibt die Verwegenheit, ja die Hybris, zu tief in das ewige Geheimnis der Götter eindringen zu wollen: Denn hier wird die Wahrheit gleichsam zu einer Besessenheit und Manie, zu einem furchtbaren Dämon, der in ungezähmter Leidenschaft, völlig entfesselt und von jeglicher Bande befreit, sein tollkühnes Spiel mit dem Menschen treibt. Hier ist jener nicht mehr Herr über sie, sondern sie über ihn; nicht nämlich erlauben es die allwissenden Götter, selbst Gott an Gottes Statt sein zu wollen; diese Megalomanie, diese Anmaßung vor dem Ewigen, endigt sich gewöhnlich in einer dumpfen Verdüsterung des Geistes, in einer stumpfen Umnachtung oder im Wahnsinn, wo nicht der verstörte Geist schon vorher beschlossen, diesem Wahnsinn selbst ein Ende zu bereiten. Denn gleichwie auch jener Schüler, der, seinem Herrn und Meister untreu geworden, es freventlich wagte, den Schleier von jenem berühmten Bilde zu Sais im fernen Ägypten zu heben, der geistigen Verblendung verfiel, so hüte sich jeder davor, zu tief in das Wesen göttlicher Wahrheit eindringen zu wollen: Wohl jenem, der sie sucht auf dem rechten Pfade, nicht mehr begehrend, als die Götter ihrem Abbilde, dem Menschen, im Irdischen zu verleihen bereit sind; weh aber dem, der sie zu erringen begehrt auf dem Wege der Schuld, sich freventlich ermißt, den Göttern zu entreißen was alleine den Göttern eignet: Er wird von der Wahrheit geblendet werden, die nicht dem irdischen Maß geziemt! Doch sind wir alle, die wir beständig nach Wahrheit und Erkenntnis dürsten, der Selbstzerstörung oftmals näher, als wir das nur immer zu erahnen imstande sind – jenem unmäßigen Feuer, das einen gleichsam von Innen her zu verzehren droht und uns nach den Sternen zu greifen verlangt; doch lieben auch die ewigen Götter jene Vermessenen, denn obgleich sie diese im Irdischen bestrafen, so werden sie doch erhöht und verherrlicht als jene, welche ihnen am Ähnlichsten waren und sind, als jene, welche in heroischem Ringen wider sich selbst zuletzt das Leben wiedergewannen als ein ewiges und unsterbliches Geschenk!
Denn unedel sondergleichen muß ein Leben sein, welches nicht kennt den heldenhaften Kampf wider das abgrundtief Böse in uns selbst, den gequälten, viehischen Aufschrei des eigenen Dämons, denselben zu töten trachtend, indem man in der Wahrheit das letzte, unwandelbare Gute zu finden erhofft: Entweder hier in der überlegenen, besonnenen Transigenz der Wahrheit mit dem im Irdischen unausrottbaren Bösen, oder aber in jenem tragischen, letzten Actus der gewaltsamen Selbstvernichtung. Ich weiß wohl, mein Freund, wie sehr Du trotzdem verstehen wirst, was ich hier nur kurz und unberedt darzutun bemüht war. Denn in einem, Freund, sei ganz und gar versichert: Lieber wollte ich den ganzen Kelch menschlichen Leidens erschöpfen als auch nur eine einzige Minute so leben zu müssen, wie es so viele Kreaturen – obgleich Menschen – scheinbar zu tun gezwungen werden! Leb wohl!




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