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Mein teuerster Freund,

wohl mögen sich in uns zuweilen Zweifel einstellen in Hinblick auf die Art der Mittel, mit deren Hilfe jemand die Wahrheit zu finden trachtet, sowie des von ihm erwählten Pfades, dessen er sich auf der Suche nach seinem Heil bedient. Wenn man nun recht bedenkt, daß wir gelegentlich sogar Zweifel gegenüber uns selbst hegen, ob wir diesbezüglich nicht etwa einem betrüglichen Irrtum folgen, so erscheint dergleichen unserer menschlichen Natur nur allzu entsprechend. Daß Du, Bester, indessen niemals Ursache habest, an der Lauterkeit meiner Absichten zu zweifeln, so beabsichtige ich Dir in diesem meinen Briefe meine persönliche Auffassung hinsichtlich der Wahl unserer Mittel, jenen Zweck, die menschlichen Tugenden nämlich, zu erlangen, darzulegen. Denn immer, wo unserem Handeln jene unabdingbare Absicht zum Grunde liegt, da sollten die Mittel, deren man zu einem solchen Zwecke bedarf, durchaus dynamisch, also der jeweiligen Natur des Philalethen, entsprechend sein. Schon Goethe meinte diesbezüglich
 
Eines schickt sich nicht für alle;
Sehe jeder, wie er’s treibe,
sehe jeder, wo er bleibe,
und wer steht, daß er nicht falle!
 
Gar gefährlich sind derlei Sinnsprüche für den Afterweisen, welchen etwa Pascal in seinen Betrachtungen mit Recht als gefährlich, albern, ungehörig und die Weltbegebenheiten störend bezeichnet; aus derartigen Worten nämlich gleichsam folgern zu dürfen, daß jegliche Lebensart recht sei, ist gleichermaßen töricht wie fatal: einzig der edle Zweck vermag allenfalls die Mittel zu heiligen, und nur jener wird also berechtigt sein, sich einer freien Wahl der Mittel zu erfreuen, welcher die Tugend sich zum Ziele seines Strebens erwählt [1]. Indem ich durch das bisher Gesagte genugsam dargelegt zu haben glaube, daß edle Absichten an und für sich dem Menschen bereits Adel zu verleihen vermögen, und daß es recht eigentlich nur jenen einzigen, von uns proponierten Zweck geben kann, so wollen wir uns nunmehr nach den uns entsprechenden Mitteln umsehen, diesem unsern Zwecke gerecht zu werden, und alsogleich werden wir feststellen, daß es hierbei nicht ebensowohl einfach ist, dieselben zu finden und diese überdies noch in rechter Weise zur Anwendung zu bringen, als sich einen Zweck – und sei dieser auch noch so erhaben – zu setzen.
Gehen wir nun, wie der Begründer der logotherapeutischen Schule, Frankl, etwa davon aus, daß die durchaus gleichen Situationen je nach Maßgabe ihrer Umstände durchaus unterschiedliche Reaktionen erfordern, ja, daß gewissermaßen kein Paradigma existiert, das allenthalben jenen Anspruch als eine allgemeingültige Maxime erheben dürfte, weil die Wahrheit, wiewohl immer dieselbe, dennoch stets unterschiedlicher Weise auftritt, so bezeichne ich die Art und Weise, wie wir uns unserer Mittel in bezug auf letztere bedienen, als dynamisch. Dasselbe dynamische Prinzip der Wahrheitsfindung, dessen Kausalität ich von zweierlei Faktoren bedingt sehe – einerseits von den äußeren (Lebens-)Umständen, anderseits von der Natur der jeweiligen Person – wünsche ich nunmehr, Teurer, vor Deinem Auge anhand meiner eigenen Person Dir auseinanderzusetzen, und ich meinerseits wenigstens hege keinen Zweifel daran, daß Du meiner Auffassung der Dinge, wenn auch nicht in allem zustimmen, diese aber dennoch billigen wirst.
Zunächst will ich bei jener meiner Gewohnheit verweilen, allmorgendlich eine gründliche Toilette sowie ein tüchtiges „Petit-déjeuner“ zu halten. Es ist dies gewissermaßen der Ausdruck jener Achtung, welche ich dem Körper in seiner Eigenschaft als „Tempel unserer Seele“, zum Dienste des Geistes geschaffen, schuldig zu sein glaube, jene Rüstung und Gewaffnung, derer ich bedarf, daß die Aufgaben und Geschäfte des Tages mich bei frischen Kräften finden mögen. Rascher nämlich ermüdet der Geist, wo der Körper geschwächt ist, und wie eine allzugroße Fixierung auf die Bedürfnisse unseres Körpers zu verurteilen ist, da dem Geist jenem gegenüber der Vorzug gebührt, so ist eine Vernachlässigung und Verwahrlosung desselben in gleicher Weise vom Übel; man möge sich diesbezüglich jenes Zitat aus den Satiren unseres geschätzten Juvenal [2] zum Vorbilde nehmen: mens sana in corpore sano! [3]
Ebenso verhält es sich mit dem Schlafe; weil jener dem Tode durchaus ähnlich, stellt er im Leben des tugendhaften, im Geschäfte des Geistes tätigen Menschen ein unüberwindliches, nicht aus der Welt zu schaffendes Hindernis dar, da man, sowie man schläft, obzwar nicht sündigt, so aber doch mitnichten auch etwas Nutzbringendes und Beförderliches im Dienste der Menschheit vermag, und nichts ist mir widerwärtiger als jene Langschläfer, welche gegen Mittag erst einmal aus ihren Betten gekrochen kommen und zumeist ungeachtet dieser Tatsache für die Geschäfte zu Nutz und Frommen des Menschen schlechterdings nicht zu gebrauchen sind. Dennoch ziehe ich vor, meinem Körper jene Quantität an Schlaf zukommen zu lassen, deren er natürlicher Weise bedarf, anstatt ihn unnatürlicher Weise durch irgendwelche retardierende Mittel zu einem längeren Wachen zu zwingen; ist der Mangel an Schlaf erwiesenermaßen die Ursache von allerlei physiologischen wie somatischen Disfunktionen, so ermüdet und erschlafft derselbe Körper umgekehrt bei allzugroßer Trägheit und macht ihn untauglich für die höheren Geschäfte des Geistes: auch hier empfiehlt sich Mesotes, das besonnene Maßhalten in jeglichen Dingen.
Ferner weißt Du, Bester, um meinen Hang zur körperlichen Ertüchtigung, und daß ich derlei Dinge zu allerlei Gelegenheiten, vorzugsweise Wanderungen ins Gebirge, zu unternehmen pflege; daß ich hiebei zuweilen die Grenze des Erlaubten überschreite und mich Gefahren aussetze, die im Widerspruch zur philosophischen Vernunft stehen, will ich Dir keineswegs verschweigen; jedoch, um mich aus dieser Verlegenheit gleichsam zu befreien, will ich mir also mit jener Replik behelfen, mit welcher der wackere Tell seinem Ehegemahl dereinst zu antworten beliebte. In jenen anmutigen Verszeilen von Schiller heißt es
 
Hedwig. Ach, es wird keiner seine Ruh
Zu Hause finden.
Tell. Mutter, ich kann’s auch nicht.
Zum Hirten hat Natur mich nicht gebildet;
Rastlos muß ich ein flüchtig Ziel verfolgen.
Dann erst genieß‘ ich meines Lebens recht,
wenn ich mir’s jeden Tag auf’s neu erbeute.
Hedwig. Und an die Angst der Hausfrau denkst du nicht,
die sich indessen, deiner wartend, härmt.
Denn mich erfüllt’s mit Grausen, was die Knechte
Von euren Wagefahrten sich erzählen.
Bei jedem Abschied zittert mir das Herz,
daß du mir nimmer werdest wiederkehren.
Ich sehe dich, im wilden Eisgebirg
Verirrt, von einer Klippe zu der andern
Den Fehlsprung tun, seh‘, wie die Gemse dich
Rückspringend mit sich in den Abgrund reißt,
wie eine Windlawine dich verschüttet,
wie unter dir der trügerische Firn
einbricht, und du hinabsinkst, ein lebendig
Begrabner, in die schauerliche Gruft –
Ach, den verwegnen Alpenjäger hascht
Der Tod in hundert wechselnden Gestalten!
Das ist ein unglückseliges Gewerb‘,
das halsgefährlich führt am Abgrund hin!
Tell. Wer frisch umherspäht mit gesunden Sinnen,
auf Gott vertraut und die gelenke Kraft,
der ringt sich leicht aus Fahr und Not;
den schreckt der Berg nicht, der darauf geboren.
 
Indessen ist es in letzterm Falle nicht sowohl der Umstand, den Körper wider die mannigfaltigen Anfechtungen des Lebens zu stählen, als dergleichen nur eine nützliche Sache ist, die aus einem weit edleren Zweck erwächst: jenem nämlich, der innigen Liebe zur Natur und ihrem Schöpfer im unmittelbaren Umgange mit derselben teilhaftig werden zu wollen, an ihr gleichsam die gesunden Kräfte zu erproben, sie im innigsten Verhältnisse, inmitten ihrer mannigfaltigen Wunder, erleben und erfahren zu können und ihre Gaben, erschaffen vom allgütigen Schöpfer zur Freude des Menschen, unschuldigen Sinnes genießen zu dürfen. Nicht selten betreibe ich dabei auch allerlei naturwissenschaftliche Studien; nicht um ihrer selbst willen allerdings betreibe ich sie, sondern allein dessentwillen, einen besseren Einblick in die Beschaffenheit des Wesens all dieser Dinge und damit jenes ihres Schöpfers zu erlangen. Leider – und derselbe Umstand läßt sich kaum bestreiten – befindet sich unsere Natur unterdessen in einem bedauernswerten Zustande, und als in höchstem Grade töricht darf es empfunden werden, wo jemand die Augen davor verschließen oder dergleichen etwa gar in Abrede stellen wollte. In Ansehung solcher Verhältnisse will es uns bei weitem schwieriger erscheinen, das noch Gesunde in unserem menschlichen Dasein, nicht nur in der Natur, erkennen zu wollen, und gäbe es dergleichen nicht doch noch zuweilen, so hätten wir längstens schon alle Hoffnung aufgegeben. Im Bestreben lebend, das noch Unverfälschte und Ursprüngliche innerhalb unseres Mikrokosmos, in der Natur wie im Menschen selbst, erkennen zu wollen, auch wenn es selten geworden ist – habe ich mir eine Anzahl unschuldiger Geschäfte und Tätigkeiten zurechtgelegt, die von einer Art sind, daß sie abseits ihrer hauptsächlichen Absicht – nämlich die Gaben des Herrn unschuldigen Sinnes, befreit von jeglichem schändlichen Vorsatze, zu genießen, um dadurch fortwährend zu einer großzügigern Erkenntnis der Größe und unendlichen Güte unseres Schöpfers geführt zu werden – auch noch den bemerkenswerten Vorzug genießen, den menschlichen Körper für die höhern, geistigen Erfordernisse zu kräftigen und tüchtig zu machen.
Mit derselben Hingabe und Leidenschaft, mit welcher ich meine Geschäfte außerhalb des Studierzimmers zu betreiben pflege, obliege ich gewöhnlich meinen Studien: es entspricht keineswegs meiner Natur, diese nach einer Art von Stundenplan zu betreiben; vielmehr arbeite ich, einmal dazu disponiert, mit höchster Konzentration in einem durch, weshalb es mir möglich wird, ein umfangreicheres Werk durchaus innerhalb weniger Tage fertigzustellen. Ich fühle mich in einem solchen Falle gleichsam dazu gedrängt, die Gunst einer fruchtbaren Stunde genützt sehen zu müssen, denn geschieht es durchaus bisweilen, daß die Grazien am Schreibpulte ausbleiben 4], so mag es ebensowohl geschehen, daß die heilige inspiratio mit ihren Gaben gelegentlich derart verschwenderisch haushält, daß man besser daran tut, eine solch vortreffliche Gelegenheit nicht unverrichteter Dinge verstreichen zu lassen. Ebenso als ich bei meinen Studien eher jenen den Vorzug gebe, welche meinen Neigungen gemäß sind, so pflege ich doch zuweilen das denselben minder gemäße zu unterlassen; und hat eine solche Art des Studierens freilich den Nachteil, in mancherlei Wissenschaften beträchtliche Defizite aufzuweisen, so hat sie immerhin den unschätzbaren Vorteil, ganz in jenen aufzugehen, die unseren Neigungen und demnach auch unseren Vorzügen und Stärken gemäß sind. Wenn ich also im Leben etwas betreibe, es sei, was immer es will, so will ich mich diesem Geschäfte stets mit meiner ganzen, ungeteilten Leidenschaft, mit vollster Konzentration auf den jeweiligen Gegenstand und mit aller Teilnahme widmen können; weshalb es mir auch unmöglich ist, zweierlei Dinge zur selben Zeit zu tun, wie etwa Essen und Studieren. Dessenungeachtet betrachte auch ich mich als einen Verfechter des ökonomischen Gebrauches unserer kostbaren Zeit: nichts auf Erden wohl wird so gar leichtfertig vergeudet wie die Kategorie Zeit, und über keinen Verlust scheint man sich gemeiniglich weniger zu beklagen als über jenen der Zeit, ausgenommen man klagt, wie es beim Pöbel allenthalben gute Sitte ist, daß man für nichts Zeit finde, aus dem einen Grunde, weil man für gewöhnlich lauter nichtige und unbedeutende Dinge betreibt; jedoch muß bei mir stets das eine nach dem andern kommen, woferne es sich um schlechterdings notwendige Geschäfte des alltäglichen Lebens handelt. Welches aber keineswegs angehen kann, ist die ganz und gar unnütze Zeitverschwendung, wo entweder Schlechtes oder Nichtiges betrieben wird; laufe ich Gefahr, durch irgendwelche Umstände in eine derartige Situation zu geraten, so wende ich mich unverzüglich ab und gehe allsogleich meiner Wege, meine Zeit einer befriedigenderen Beschäftigung zuzuwenden.
Ferner ist der natürliche Hang, irgendeinen Menschen – ungeachtet jener transzendenten und gleichsam divinatorischen Liebe, welche wir etwa Gott gegenüber empfinden und welche die reinste Form der Liebe ist, die zu empfinden wir immer nur imstande sind – in unserem Leben wissen zu wollen, dem wir uns auf das innigste verpflichtet und verbunden fühlen, ein höchst bemerkenswerter. Hat das Schicksal uns nun mit einer solch seltenen Gabe beschenkt, so haben wir alle Ursache, uns seiner dankbar zu erweisen. Ich darf in bezug auf letzteres von mir behaupten, daß ich mich des Vorzuges erfreue, nicht nur einen vortrefflichen Freund, sondern auch eine ebenso vortreffliche Gefährtin gefunden zu haben. Wenn es auch unbestritten bleibt, daß man zuletzt keines Menschen wirklich bedarf und wenigstens der Weise sich selbst jederzeit genug ist: so läßt sich dennoch keineswegs leugnen, daß der Mensch, trotz aller apriorisch angelegten Vernunft, doch jederzeit eine Entsprechung sucht, welche ihm durch die Sinne gegeben werden kann. Am ehesten ließe sich dergleichen durch einen Satz von Kant veranschaulichen, wonach dieser sagt, daß Gedanken ohne Inhalte leer, Anschauungen ohne Begriffe blind seien [5]. Hat man demnach einmal einen Begriff von Zuneigung und Liebe gefaßt, so drängt unsere menschliche Natur im allgemeinen darnach, sich eines Gegenstandes nicht nur in der Transzendenz, sondern auch in der sinnlichen Erfahrung zu versichern, sich gewissermaßen ein Objekt der sinnlichen Erfahrung an die Hand zu geben, um auf diese Weise wechselweise die objektive Gültigkeit unserer geistigen Grundsätze an der Erfahrung zu üben. Sicherlich macht die Bindung an ein menschliches Wesen, namentlich an eine Frau, selbst wenn man dieselben Absichten hegt, dennoch so manche Konzessionen und Kompromisse erforderlich, welche wenigstens zuweilen für einen selbst nicht eben immer sehr ersprießlich sind. Dennoch genießen wir, wo unsere Zuneigung und Achtung für jenes Wesen recht beschaffen ist, jenen unschätzbaren Vorteil, jemand an unserer Seite zu wissen, der uns in den unglücklichsten und trostlosesten Stunden unseres Lebens liebevoll in seine Arme schließt und Anteil an unserem Geschicke zu nehmen bereit ist; und gewährt der Trost eines aufrechten und liebevollen Freundes dem Betrübten schon die herrlichste Erquickung, so macht die Liebe und zärtliche Besorgnis der Frau diesen Trost vollkommen. Es schätze sich daher jeder glücklich, der sich des göttlichen Beistandes sowie eines aufrechten Freundes versichert weiß, bei alledem aber auch die Liebe einer Frau nicht entbehren muß.
Ein weiterer Punkt, welchen ich noch gerne zu erwähnen wünschte, ist der Umgang mit der Gesellschaft. Will jemand etwas mit dem notwendigen Ernste im Leben betreiben und sich zu einem aufrechten Menschen von irgend Wert heranbilden, so wird es ihm unerläßlich sein, sich weitgehend vom lärmenden Getriebe der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Unzählige Philosophen und Weisen haben sich über diesen entscheidenden Punkt bereits ausgesprochen und haben diese Prämisse als für eine vernünftige, vom Pöbel unbeeinflußte Entwickelung des Seelenlebens notwendig erachtet, und ich habe auch noch keinen verständigen Menschen getroffen, der dieser Forderung irgend zu widersprechen geneigt gewesen wäre. Feindlich und den Geschäften des Geistes abträglich ist der Umgang mit der groben Masse, und daher tut jeder, der sich auf derlei Dinge zu verstehen glaubt, gut daran, seine Umtriebe in der Öffentlichkeit auf ein Mindestmaß zu beschränken. Dennoch sollte man sich gar wohl davor verwahren, durch eine allzugroße Unleidlichkeit der Menge, welche uns ja in der Tat auch nur selten zu einem Lobpreis Anlaß gibt, seine Seele durch eine misanthropische Gesinnung zu vergiften. Ich habe es mir daher zu einer Maxime gemacht – denn auch dann, wenn ich nicht in der Studierstube verweile, meide ich die Gesellschaft nach eigener Maßgabe – mich dennoch nicht gänzlich von derselben zu isolieren. Ein allzu weltfremdes Leben hat nicht selten eine Isolation, eine körperliche wie geistige Vereinsamung zur Folge, und je weniger man sich mit den Verhältnissen der Menschen im öffentlichen Leben befaßt, desto unverständlicher und fremder werden sie einem, und schließlich wird einem der ganze Umgang mit ihnen verleidet. Es ziehe sich daher jeder auf sich selbst zurück, soweit dergleichen förderlich ist – jedoch gibt es wohl auch eine Grenze, welche das förderliche Maß übersteigt und wo dieselbe beständige Isolation sich in zersetzender Weise fühlbar machen kann. So sagt etwa auch Seneca in seinen Briefen an Lucilius, daß es zwar allezeit unsere Sorge sein möge, nach einer besseren Lebensart zu streben als die Menge, nicht aber nach einer entgegengesetzten: ansonsten verjagen wir jene, so wir gebessert wissen wollen, und stoßen sie von uns ab; auch das erreichen wir damit, daß sie nichts von unserem Wesen nachahmen wollen, in ihrer Furcht, alles nachahmen zu müssen. Dies nämlich, sagt Seneca, verspricht die Philosophie als erstes: Gemeinschaftssinn, Menschenfreundlichkeit und geselliges Zusammenleben. Daß ein Ansinnen solcher Art in seiner Ausführung zumeist weit schwieriger ist, als dergleichen gesagt wird, brauche ich Dir, Bester, nicht wohl auseinanderzusetzen; wissen wir doch beide nur allzu gut, wie sehr einem durch die unaufhörliche Pöbelhaftigkeit und Ignoranz der Menge derlei Dinge verleidet werden.
In der Absicht, nicht allzu weitschweifig zu werden, möchte ich zuletzt wieder auf jenes dynamische Prinzip der Wahrheitsfindung zurückkehren, worauf ich am Eingange meines Briefes bereits hingewiesen habe; dies nämlich war meine Absicht, Dir zu versichern, daß Du aufgrund der Andersartigkeit meiner Mittel, unserem gemeinsamen Zwecke zu dienen, niemals Ursache haben mögest, an der Lauterkeit und Wahrhaftigkeit meines Strebens zu zweifeln. Auch weiß ich sehr wohl um die Gefahren, welche mit einer solchen Lebensweise verknüpft sind, und gerne gestehe ich ein, daß es wohl bessere Wege geben mag als den meinen, zu jenen höchsten Gütern der menschlichen Tugend und dann zu jener höchsten Ursache derselben, zu Gott selbst nämlich, vorzudringen. Dessenungeachtet muß ich einräumen, daß er mir wenigstens als der mir entsprechendste erscheinen will, und wenn wir wissen, daß jede menschliche Philosphie, welcher Art sie nun immer sei und auf welche Weise sie nun immer beschaffen sein mag, stets auch ihre kleinen Mängel und Unzulänglichkeiten haben wird, so sollte dies dazu dienen, unsere Zweifel an der Wahl unserer Mittel hinwegzunehmen, wo nur der Zweck deutlich und über jeden Zweifel erhaben vor unseren Augen steht! Und nicht zuletzt auch darin bewährt sich jede wahre Philosophie, daß sie stets am Wahren ihrer Überzeugung, an ihrer Überzeugung vom Wahren festhält und auch aus den unglücklichsten Verirrungen jedesmal unbeschadet wieder hervortritt, um sogleich weiter unbeirrt den Weg der Wahrheit zu beschreiten; das System, welches ich mir im Laufe meiner Jahre als jenes meiner Wesensart korrespondierende zurechtgelegt habe, darf kühnlich von sich behaupten, daß es, obzwar mit mancherlei Fehlern und Schwächen behaftet, dennoch ein in sich geschlossenes ist, und ich habe mit seiner Hilfe so manchem Ansturme der neidischen Geschicke mutig zu trotzen gewußt. Denn so wie jeder Wanderer, wo er nur nach Rom zu gelangen wünscht, über kurz oder lang nach Rom kommen wird, so es die Vorsehung nicht anders beschlossen – und dies durchaus auf verschiedenen Wegen – so wird auch jener, der es sich aufrichtig zum Ziel gesetzt, den Göttern zu gefallen, darin Erfolg haben, welcher Mittel er sich nun auch immer bedienen mag, um ein derartiges Ziel zu erreichen; und wenn wir einer bestimmten Art des Denkens überdies noch die ihr gebührende Billigung, wo nicht Achtung entgegenbringen, soferne dieser auch tatsächlich Respekt gebührt, so wird man dadurch nur umso mehr Ursache haben, auch uns selbst die gebührende Reverenz zu erweisen! Denn es gibt meiner Ansicht nach selten eine größere Torheit, als um kleiner Unterschiede in der Auffassung willen sich im Streben nach einer großen und edlen Sache leichtfertigerweise zu entzweien, so wie etwa, Du wirst Dich dessen erinnern, Bester, uns dies mit unserm ehemaligen Bruder Siegfried von Aue widerfuhr. Nicht jeder vermag immer und in allem die Meinung des anderen zu teilen, doch zwei sind stärker als ein einzelner, daran gibt es nun einmal nichts zu rütteln: wer sich daher entschließt, zusammen mit andern ein gemeinschaftliches Ziel zu verfolgen, der achte wohl darauf, welcher Wesensart diese Menschen denn eigentlich seien; und hat er nach eingehender Prüfung einen Menschen nach eigener Maßgabe als einen Menschen von Wert befunden, so sei er wohl bestrebt, denselben sich zu bewahren; denn gar trügerisch sind die Mächte des Bösen, und sie streuen auch dort noch dem Arglosen den Samen des Argwohns ins Herz, wo Reinheit und Lauterkeit gebeut. Mögen also denn Gott und die Vorhersehung alle Zweifel und Bedenken von uns fernhalten, auf daß wir Seite an Seite, Schulter an Schulter auch fürderhin gemeinsam für jene heilige Sache kämpfen dürfen, die wir gemeinsam als die einzig rechte erkannt haben, und möge der Herr unsere Freundschaften segnen, auf daß nichts als der alles irdische Leben beherrschende Tod dieses Band einst zerreißen möge!
 

[1] Wir wollen in dem zuletzt Gesagten jedoch keineswegs jenen rigorosen, oftmals religiösen Fanatismus verstanden wissen, wie ihn etwa Fundamentalisten oder Terroristen ins Werk gesetzt haben, womit sie verblendeter Weise ihre blutigen Freveltaten mit dem Kampf für das Gute gleichsetzen und ihre Greueltaten legitimieren wollen.
[2] Decimus Iunius Iuvenalis (etwa 60-140 n. Chr.) war ein bekannter römischer Redner und Dichter von gewaltiger Beredsamkeit und Schärfe des Wortes. Er griff die Verkehrtheit der Menschen seiner Epoche schonungslos an und gilt als eine bedeutende Quelle der Sittengeschichte der damaligen Zeit. Sein Einfluß auf die Entwicklung der Satire insgesamt war höchst bedeutsam.     
[3] Mens sana in corpore sano (sit): „ein gesunder Geist (möge) in einem gesunden Körper (wohnen)“ ist ein geflügeltes Wort aus den >Satiren< Juvenals und hat in den allgemeinen Sprachgebrauch Eingang gefunden.  
[4] „Die Grazien sind leider ausgeblieben“: Zitat aus Goethes „Torquato Tasso“ zur Kennzeichnung Antonios; im allgemeinen mag man damit einen völlig unpoetischen Menschen und nüchternen Realisten bezeichnen.
[5] Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft I



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