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LESEPROBE

Aus: Thomas von Kienperg, Der Dragoneroffizier des Königs, Kapitel I

Fortuna fortes metuit, ignavos premit.

Die Nachmittagssonne neigte sich schon merklich westwärts, als ein einzelner Reuter langsam die chaussierte Heeresstraße einhergeritten kam; sein Reittier – ein dunkler Wallach – schien außerordentlich mitgenommen, was unschwer an der müden Gangart desselben zu sehen war. Der Gaul schien – wenigstens was das Sattelzeug und den Stegreif betraf – ein Schlachtroß zu sein, denn obschon jetzt reichlich erschöpft, konnte man den edlen Bau seiner Glieder dennoch kaum leugnen; seine Kraft schien vielmehr nur vorübergehend von den Strapazen eines langen Rittes gebändigt. Der Reiter selbst war noch jung, kaum mochte er über die zwanzig zählen; auch sein blaufarbener Rock sowie die Reitstiefel, insbesondere aber der an seinem Bandelier eingehakte Degen bestärkten jene Vermutung, daß der junge Mensch dem Soldatenstande angehörte; die Uniform indessen, deren Aufschläge, wie es aussah, die Regimentsfarben eines französischen Dragonerbataillons trugen, war äußerst zerschlissen und ließ erahnen, daß ihr Träger wohl einige Beschwerlichkeiten im Felde zu bestehen gehabt. Das Haupt war unbedeckt, das dunkelbraune Haar im Nacken zu dem bei Soldaten üblichen Zopf, einem Chignon, gebändigt; an seinem Halsansatz, der, braungebrannt wie das männlich-schöne Antlitz, aus dem halb geöffneten Hemdkragen hervorragte, konnte man bei genauerem Hinsehen die halbverheilten Male einer großen Narbe bemerken; den Dreispitz schien er unterweges verloren zu haben.
Die Gegend öffnete sich nun immer weiter vor den Blicken des gemächlich Dahinziehenden; nur selten ward die reizende Landschaft von anmutigen Hügeln und sanften Anhöhen unterbrochen. Reiche Tiefen wechselten harmonisch mit freundlichen Buchenwäldern, und am blaßblauen Nachmittagshimmel zogen einige Schäfchen frei über die grünen Hügel dahin! Nach wenigen Minuten – der junge Reiter verhielt zuweilen das Roß und blickte wie nachsinnend über die ihn umgebenden Gründe hin – klomm die Landstraße in einer sachten Steigung eine kleine Anhöhe empor; als er dieselbe erklommen hatte, tat sich ihm herniederblickend plötzlich der Anblick auf einige kleine Dörfer auf, die im freundlichsten Sonnenglanze, gleichsam feenhaft verstreut, zwischen den Hügeln versteckt vor ihm in der Tiefe lagen und deren funkelnden Kirchtürme gar anmutig zu ihm heraufgrüßten! Ein von allerlei Weiden gesäumter Strom wand sich in der Ferne durch die Ebene und trieb, wo sein Lauf zuweilen ein Gefälle bildete, über dessen Felsen wohl auch ein lieblicher Wasserfall hinabsprang, mit heiterem Geklapper einige Mühlen. Wieder zwang der Reiter sein Pferd zum Stillstand und schien in angestrengtem Nachdenken gleichsam über das weite, offene Land hinzublicken. Unter derlei Betrachtungen nahm das Roß, ohne daß sein Reiter es nur dazu vermocht hätte, langsam den gewohnten Schritt wieder auf und erreichte nach einem Weilchen ein Gasthaus, welches, ganz von Stein erbaut, am Eingange des kleinen Städtchens hart an der Landstraße gelegen war. Das Gebäu schien ziemlich heruntergekommen; dessenungeachtet schwang sich der Fremde, nachdem er den nämlichen Ort erreicht hatte, von seinem Tier und band es mit den Zügeln an einem eigens für denselben Zweck vorgesehenen Balken vor dem Wirtshause fest. Nachdenklich strich er sich mit der Hand übers bärtige Kinn und betrat, indem er zunächst noch zu zögern schien, den engen, mit allerlei Gerümpel vollgepackten Korridor, und, nachdem ihm lärmende Stimmen den Weg gewiesen, zuletzt die Schenke. Diese schien indessen ziemlich bevölkert, und indem er den Blick kurz über die versammelte Gesellschaft schweifen ließ, vermochte er in einer Ecke des in düstere Helle gehüllten und von dumpfer, stickiger Luft erfüllten Raumes den Weinzapf auszumachen, wie er soeben zwei dampfende Näpfe mit Lammbraten auf einem der von Gästen umlagerten Tische absetzte. Die Gesellschaft allerdings schien – wenigstens dem Eindrucke nach – mehrstenteils aus lichtscheuem Gesindel zu bestehen, und der Ankömmling mochte der ernsthaftesten Überzeugung sein, daß er wohl eine bessere Absteige hätte wählen können. Dennoch wandte er sich, nachdem der wohlbeleibte Wirt, mit aufgekrempelten Ärmeln und allem Anscheine nach höchst verdrießlich, denselben Auftrag besorgt hatte, an den letztern und unternahm einen bescheidenen Versuch zu bestellen; alleine jener schien alledem keine rechte Beachtung zuzuwenden und schritt an einer Antwort statt nur verdrossen an ihm vorüber. Nachdem er auf solche Weise noch zu zwei-, dreien Malen vergeblich versucht hatte, die Aufmerksamkeit desselben auf sich zu ziehen, wandte der sich endlich mürrisch an den unbekannten Gast: „Was willst du, Fremdling? Du siehst wohl, daß ich alle Hände voll zu tun habe!“
Nun stellte sich heraus, daß der fremde Soldat keine Silbe Deutsch verstand. Durch einige Zeichen, welche er mit beiden Händen vollführte, gab er schließlich zu verstehen, daß er Hunger habe und einen Schluck trinken wolle.
„Hast du Geld bei dir, Kerl“, versetzte der Wirt, „gutes, deutsches Geld? Bei mir bekommt man nichts umsonst!“ Obschon der fremde Gast kein Wort verstand, so schien er die Frage doch erraten zu haben, denn sogleich öffnete er einen kleinen Lederbeutel, welchen er einer Tasche seines zerschlissenen Soldatenrockes entnahm und wies ihm auf der Handfläche etliche Kupfermünzen hin. Der Wirt brummte daraufhin etwas Unverständliches vor sich hin, gab jedoch durch ein Kopfnicken zu verstehen, daß er den Auftrag besorgen werde.
Der junge Soldatenmensch unterdessen sah sich nach einer Sitzgelegenheit um; sämtliche Tische waren besetzt, und keiner der Gäste schien irgend Anstalt zu machen, ihm einen Platz an seiner Seite anbieten zu wollen. So trat er denn zuletzt zögernd auf einen der Tische hinzu, und da man sich den Anschein gab, als bemerke man ihn nicht, sah er sich wohl oder übel gezwungen, sich auf die eine oder andere Weise etwas Aufmerksamkeit zu verschaffen.
„Excusez-moi, monsieurs“, hub er, auf einen der freien Stühle zeigend, an, „vous dérangeriez m’asseoir à votre table ... s’ il vous plaît?“
„Verehrtester Nachbar“, wandte sich einer der Tischgenossen, ein schmerbäuchiger Kerl, der aussah wie ein Landstreicher, an seinen Nachbarn, „würdet Ihr wohl die Güte haben, mir zu erklären, was der Kerl da von uns will?“
„Na was wohl, du Schafskopf! Einen Platz zu Tisch will er! Mein guter Freund“, wandte jener, ein heruntergekommener, invalider Soldat, wie es scheinen wollte, sich fortfahrend an den jungen Fremdling, „wenn Ihr hier kein vernünftiges Preußisch nicht reden könnt – nun! so wird man Euch wohl schwerlich jemals verstehen und Ihr, wo möglich, in einer Stunde immer noch auf dem selben Platz herumstehen!“
Der junge Unbekannte, obzwar nichts von alledem Gerede verstehend, nahm, da er seinerseits niemandem zu einer Verweigerung des freien Stuhles Ursache gab, mit einem „Vielen Dank!“ – vermutlich eines jener wenigen Worte, aus denen sein deutscher Sprachschatz bestand – platterdings an dem nämlichen Tische platz. Kaum, da jener auf diese Weise sich niedergelassen hatte, ward er von seinem Nebenmanne, jenem schmerbäuchigen Gesellen, sogleich auf eine höchst seltsame Weise inkommodiert – von wannen er käme und was um alles in der Welt er hier in den sächsischen Landen zu schaffen habe. Dem jungen Unbekannten, da ihm die unaufhörliche Fragerei, von der er ja nun doch einmal nichts verstehen konnte, endlich ärgerlich zu werden schien, wandte sich zuletzt an sämtliche Tischgenossen, welche außer dem schmerbäuchigen Landstreicher und jenem abgerissenen Kriegsmann auch noch aus einem langen, hageren Kerl mit einer schmutzigen Grenadiermütze bestand: „Je viens de Paris ... eh bien, monsieurs, je viens de la France, vous comprenez?“
„Alle Wetter“, rief hier der Lange mit der Grenadiermütze aus, „habt ihr gehört, Leute, der Kerl ist ein gottverdammter Franzose! Der Teufel hole das ganze verfluchte Gesindel!“ und damit spie er, indem er das Gesicht auf eine widerliche Weise verzog, seinen Kautabak unter den Tisch.
„Die Verräter halten es mit den Österreichern und haben den Herzog von Cumberland aus dem Felde geschlagen!“, rief der invalide Söldner mit heiserer Stimme zur Antwort, „und nun halten sie ganz Hannover und Braunschweig besetzt! Und das nun ist der Dank dafür, daß unser König Zeit seines Lebens soviel auf die Franzosen gegeben hat!“
Der junge Kriegsmann, obschon er natürlich weiterhin schwerlich ein Wort verstanden haben mochte, schien dennoch zu fühlen, daß man ihm allem Anscheine nach nicht eben sehr freundlich gesonnen war; dessenungeachtet verharrte er weiter still auf seinem Platze und schien sehr darauf bedacht, den unfreundlichen Gesellen keinerlei Ursache zu geben, wider ihn zu räsonnieren. Fast noch im selben Augenblicke schritt der Wirt mit einem hölzernen Napf zum Tisch heran, der eine dünne Brühe von Linsen enthielt, und stellte denselben dergestalt vor den Fremden hin, daß sich beinahe die Hälfte des Inhaltes auf den Tisch verspritzte; dasselbe geschah mit einer Kanne sauren, gewässerten Weines, indem der Wirt sich an seiner schmutzigen Schürze die Hände abwischte und zu seinem ungebetenen Gaste gewandt knurrte: „Das ist alles, was ich noch habe; gib mir drei Kreuzer dafür, du Franzosenhund, und dann sieh zu, daß du schnell wieder verschwindest! Wir brauchen euch Franzosen hier in Preußen nicht!“
Der junge Unbekannte, ungeachtet des wenig freundlichen Tones, legte ruhig die drei Kreuzer vor sich auf den Tisch, obgleich der Fraß wohl schwerlich jemals seinen Kreuzer wert war. Brummend ließ der Wirt das Geld in seiner weiten Hose verschwinden, als sich der invalide Kriegsknecht wieder an den ersteren wandte. „Habt Ihr gehört, Gevatter“, sagte er zu demselben, „unser König hat alles versucht, mit den Franzosen Frieden zu schließen! Und was ist nun der Dank dafür, daß wir uns beständig um ihre Gunst bemüht haben? Der Marschall von Estrèes hat den Cumberland bei Hastenbeck aufs Haupt geschlagen, und jetzt liegen die Kerle allenthalben in Hannover und Braunschweig in Garnision!“
„In der Tat, alter Freund“, schnarrte der Wirt, „man sollte die Hunde samt und sonders aus dem Land jagen!“
Der Fremde, der unterdessen im Begriffe schien, die karge Mahlzeit einnehmen zu wollen, schien es dem Umstande nach als für das Klügste anzusehen, alledem weiter keine Beachtung zu schenken; bescheiden rückte er deshalb seinen Stuhl ein Stückchen abseits an den Rand des Tisches, um die übrigen in ihrer Unterhaltung nicht zu stören.
„Und Ihr gebt dem da auch noch zu fressen, Gevatter!“, schrie da plötzlich der Schmerbäuchige, „nicht für fünf Kreuzer bekäme der Hund eine Maisgrütze bei mir!“ und polternd schlug er mit seiner schweren, fleischigen Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirrend auf der Tischplatte umhersprangen. „Was schwatzet ihr da noch lange und seht zu, wie er sich den Bauch vollschlägt“, rief ein anderer von seinem Tisch herüber, „raus mit dem Franzosen!“
„Hund von einem Franzmann!“, bellte der Schmerbäuchige jetzt und versetzte jenem mit dem Ellenbogen einen solch derben Stoß, daß der Napf vom Tische auf die Dielen fiel. Auch die Weinkanne war bei demselben Vorgange umgestürzt, und als der erstere nun gar die Faust wider den Fremden zu erheben Anstalt machte, hatte dieser blitzschnell seinen Degen gezückt und setzte jenem die Spitze desselben auf die Brust, indem er ausrief: „Arretez, monsieur!“
Jetzt erhoben sich auch der invalide Kriegsknecht sowie der lange Bursche mit der Grenadiermütze von ihren Plätzen und schwenkten unter drohenden Gebärden ihre Fäuste. Auch einige andere waren nunmehr an ihren Tischen aufgesprungen, sodaß ein tumultuarischer Lärm sogleich den ganzen Raum zu erfüllen begann. Es hätte vermutlich alles noch eine leidlich gute Wendung nehmen können, hätte der Landstreicher nicht plötzlich unversehens die schwere, zinnerne Kanne vom Tische gerafft und nach dem Fremden geschleudert. Der indessen unterlief geschickt den Wurf, sodaß der Gegenstand mit einem lauten Gepoltere an die weißgetünchte Mauer in seinem Rücken prallte, und vollführte in demselben Augenblick einen Streich mit dem Degen dem Gegner vor die Brust, dergestalt, daß jener mit einemmal ganz bleich im Gesichte wurde. Sein Blick ward zunächst ganz seltsam starr, dann konnte man beobachten, wie sich der abgeschabte Rock vorne an der Brust schnell rot zu verfärben begann. Soeben schien die Szene außer Kontrolle geraten zu wollen, denn rasch waren nun einige andere von ihren Stühlen aufgesprungen, und auch der Weinzapf war augenblicks herbeigeeilt, um sich, wie es den Anschein hatte, des dreisten Fremdlings zu bemächtigen. In demselben Augenblicke aber flog die Tür zur Schankstube auf, und auf der Schwelle erschienen plötzlich Soldaten – allem Anscheine nach berittene Dragoner, was der paillefarbene Soldatenrock sowie der Dreispitz mit dem Insignum des Schwarzen Adlerordens genugsam erraten ließen. In ihren Händen blinkten die Musketen, seitwärts am Gürtel hing der Degen. Der Stimmenlärm in der Stube verstummte allsogleich, alle blickten wie erstarrt nach der geöffneten Türe hin, der Fremde hielt den Degen noch an seines Gegners rote Brust gesetzt; der Anführer des Soldatentrupps trat mit dem Ausruf ‚keiner rührt sich von der Stelle‘ langsam näher und hatte im Augenblick ein Paar Terzerolen gezückt, die er jetzt geradewegs vor sich hingestreckt hielt. „Was zum Teufel geht hier vor!“, rief er schneidend aus; „Ihr da drüben, Ihr lässt sogleich Euern Degen fallen, sonst machen wir eine Zielscheibe aus Euch!“
Nun drängten sich auch die übrigen des Häufleins, alles zusammen fünf Dragoner, in das Innere des Raumes, die Musketen drohend vor sich hingestreckt. Jener Fremde blickte kurz nach den Männern hin, und da er einzusehen schien, daß hier jeder Widerstand zwecklos war, ließ er sogleich den Degen fallen. Der andere, vom Degen mitten auf die Brust getroffen, erschlaffte nun gleichsam in effigie und sackte plötzlich in sich zusammen; seine Kameraden vermochten ihn jedoch aufzufangen. Nun schritten zwei der Dragoner unverzüglich nach dem Fremden hin und ergriffen ihn derb beiderseits an den Armen, indem ihr Anführer sich barsch an den ihm zunächst stehenden Wirt wandte: „Was zum Henker ist das nun wieder für eine verfluchte Geschichte?“
Jener, einmal zu erzählen aufgefordert, fing daraufhin sogleich zu berichten an, daß jener ihm unbekannte Gast, allem Anscheine nach ein Franzose, begonnen hätte, allerlei Händel unter den Leuten anzustiften. Zuletzt habe er unverrichteter Dinge seinen Degen gegen einen seiner Gäste gezogen und habe ihn damit ohne jeden ersichtlichen Grund einfach mitten vor die Brust gestoßen. Die übrige Gesellschaft fiel sogleich lauthals in die Rede des Wirtes ein und bekräftigte dessen Worte auf das allerheftigste; zuletzt entstand wieder eine allgemeine Unruhe in dem Raume, sodaß der Rädelsführer der Dragoner, ein Hauptmann, wie man nun an den Rangabzeichen erkennen konnte, strengen Tones Ruhe gebot. „Schafft den Kerl hier fort“, rief er aus, indem er mit seiner Terzerole nach dem Verwundeten wies; sogleich faßten ihn der invalide Kriegsknecht sowie jener andere mit der Grenadiermütze unter beide Arme und schleiften ihn über den Fußboden hinweg fort, während ein anderer nach einem Wundarzt schicken ließ. Der Hauptmann wandte sich nun an den Fremden. „Ihr seid wohl übergeschnappt, mein Lieber? Oder glaubt Ihr tatsächlich, ihr könntet hier hausen wie die Heiden im Tempel Salomos?“ Der Unbekannte, welcher keinerlei Anstalt machte, irgend Widerstand zu leisten, unternahm in seiner ihm geläufigen, französischen Sprache einen verzweifelten Versuch zu sprechen: „Croyez-moi, Sire, je peux bien expliquer ca ...“ „Der Kerl spricht kein Wort deutsch!“ versetzte nun einer der Dragoner. Nun stellte sich heraus, daß der Hauptmann, wie alle Offiziere in den preußischen Regimentern, ein vortreffliches Französisch sprach. „Wie ist Euer Name, Kerl“, wandte er sich deshalb in derselben Sprache sogleich an den Fremden, „und wer hat den Handel hier begonnen?“
Nun begann jener in einer ruhigen und überaus bescheidenen Art und Weise, die so gar nicht seinem vorherigen Verhalten entsprach, zu erzählen. Sein Name sei Jerôme Dévillier und er habe bis vor wenigen Wochen noch unter den französischen Dragonern im Range eines Premier-Lieutnant gedient. Infolge eines Duells jedoch habe er die Heimat unverzüglich verlassen müssen und habe sich, auf solche Art und Weise genötigt, quer durch die deutschen Lande endlich bis hierher nach Preußen durchgeschlagen, weil er gehört habe, daß König Friedrich seinem Volke ein sehr gerechter Herr sei und er gehofft habe, hier in den preußischen Ländern vielleicht eine neue Anstellung zu erhalten. Viele seiner Landsmänner, welche irgendwelcher Beschwernisse wegen ihre Heimat hätten verlassen müssen, hätten, wie er oftmals gehört habe, in preußischen Diensten eine neue Anstellung erhalten; indessen sei es ihm ferne gelegen, mit diesen Leuten irgendwelche Händel anzufangen. Er sei fast den ganzen Tag durchgeritten, er sei müde geworden und habe endlich beschlossen, hier zuzusprechen, um eine Mahlzeit einzunehmen, da er großen Hunger verspürt habe; er verstünde auch überhaupt kein Deutsch, weshalb er kaum habe in Streit mit jenen Leuten geraten können. Zuletzt habe es ihm geschienen, als habe man ihn beschimpft, daß er ein Franzose wäre. Dann habe jener, welchen man zuvor hinweggeschafft habe, jenen Zinnkrug, der dort hinter ihm noch auf den Dielen liege, nach ihm geworfen; an der Wand könne man genau sehen, daß der Wurf mit aller Wucht geführt worden wäre. Endlich hätte er kein anderes Mittel mehr gewußt, als sich mit dem Degen zur Wehr zu setzen, da jene alle Anstalt gemacht hätten, auf ihn einzustürmen, und nur äußerst unglücklichen Umständen sei es zu verdanken gewesen, daß er den Mann zuletzt getroffen habe. Hier unternahm der Wirt gleichsam einen Versuch, den Erzählenden in seinem Vortrage zu unterbrechen, indem er mit den Worten ‚der Kerl lügt wie gedruckt, Sire‘ dazwischenfuhr, doch der Hauptmann verwies ihn sogleich barschen Tones seiner Einmengung und wandte sich also an den Unbekannten: „Habt Ihr Papiere bei Euch? Könnt Ihr Euch ausweisen?“
Der junge Mensch gab daraufhin zur Antwort, er habe in der überstürzten Flucht, mit der er habe das Land verlassen müssen, keine Zeit mehr gefunden, seinen Abschied zu nehmen und verfüge aus demselben Grunde auch über keinerlei Zeugnisse. „Die Sache ist in jedem Falle verdächtig“, fuhr der Hauptmann in deutscher Sprache fort; „wir werden den Burschen als Gefangenen mit uns führen müssen, ehe wir mehr Licht in die ganze Angelegenheit gebracht haben werden! Bindet ihn und setzt ihn auf jenen Gaul, welcher draußen vor der Tür angebunden steht! Wir werden ihn fürs Erste nach Dessau schaffen und ihn dort in das Gefängnis werfen lassen! Dann wollen wir sehen, was mit ihm weiter zu geschehen hat! Ihr andern“ – und mit denselben Worten blickte er wenig freundlich auf die ringsum anwesende Gesellschaft – „verschwindet jetzt von hier! Macht weiter! Auf, packt euch!“
Die Leute schienen sich des Umstandes sehr schnell zu erinnern, daß mit den preußischen Militärs keineswegs zu spaßen war; seine Habseligkeiten an sich zu raffen und die Schankstube zu verlassen war eins! Die Dragoner führten den jungen Dévillier – oder wie zu heißen er wenigstens vorgab, nun gleichfalls aus der Stube. Der Hauptmann, noch ferner im Raume verharrend, bückte sich zuletzt und las jenen Zinnkrug – das corpus delicti des vorangegangenen Raufhandels – vom Boden auf, indem er ihn dem jetzt kleinlaut gewordenen Wirt in die Hand drückte. „Paßt ein andermal besser auf Euere Gerätschaften auf, Lump“, versetzte er grob, „und gebt acht, daß sie nicht jedermann um die Ohren fliegen!“ Sodann folgte er seinen Männern ins Freie hinaus. Vor der Schenke befahl er, den Gaul Dévilliers von dem Schragen loszubinden. Einem seiner Leute, der soeben im Begriffe schien, dem Gefangenen Fesseln anlegen zu wollen, rief er schließlich zu: „Laßt es gut sein, es wird nicht nötig sein!“ und, sich Dévillier zuwendend, fuhr er auf französisch fort: „Wir werden eben freundlicherweise davon Abstand nehmen, Euch zu fesseln, mein Herr! Solltet Ihr Euch allerdings mit dem – zugegeben höchst verlockenden – Gedanken tragen, entfliehen zu wollen, so seid darin versichert, daß Eure Flucht höchstenfalls einen Musketenschuß weit dauern wird!“ Der Gefangene nickte stillschweigend; anschließend nahm man ihn in die Mitte und ritt auf der Landstraße in nördlicher Richtung davon.
Die Sonne stand unterdessen schon weit über der westlichen Ebene. Die Straße folgte nun in gerader Richtung gleichsam einem Flußlauf, welcher sich rechterhand in gebührendem Abstande durch die flache Aue wand und die nun immer seltner durch kleinere Anhöhen und Erhebungen unterbrochen ward. Zuweilen sah man in der Ferne einen Kirchturm oder einige verstreut gelegene Meiereien hinter den Bäumen hervorlugen oder Rauchsäulen zum Himmel aufsteigen; die einzigen Laute, die man vernehmen konnte, waren jene des Hufschlages auf der grob bepflasterten Landstraße sowie der unausgesetzte Gesang der Vögel, die bisweilen von den Bäumen und Büschen neben der Straße aufgeschreckt wurden, sooft man nun daran vorüberzog. Helle Wolkenstreifen hingen fern über dem Horizont und schienen dort gleichsam mit dem Rande der Ebene zu verschwimmen. Der Gefangene saß unterdes regungslos im Sattel seines Pferdes und schien in tiefes Nachsinnen vertieft. Die Musketiere, welche zunächst noch häufig argwöhnische Blicke nach ihm geworfen und ihre Flinten in Bereitschaft gehalten hatten, schienen, je länger der Ritt andauerte, immer mehr zu der Überzeugung zu gelangen, daß ihre Aufmerksamkeit durchaus überflüssig war. Manchmal begannen die Dragoner untereinander ein Gespräch oder lachten über irgendeinen Scherz, welchen einer aus dem Haufen zum besten gegeben hatte. So legte man Meile um Meile in der weiten Umgegend zurück, als der Hauptmann seinen Gefangenen zuletzt auf französisch anrief: „Bei welchem Regiment habt Ihr gedient, Dévillier?“ „Zuletzt war ich beim Dragonerregiment von Richelieu“, versetzte jener sogleich, „wir waren bei Angers eingesetzt!“ „Ein gutes Regiment, Dévillier?“ „Wir haben die Schlacht bei St. Mars-La-Jaille mitgeschlagen! Wenn nicht gleich das beste, so wohl auch kaum das schlechteste von allen!“ „Habt Ihr auch davon gehört, daß Eure Franzosen bei den Pfaffen von Zeven einen Vertrag mit dem englischen Könige zu schließen beabsichtigen, daß Hannover sich künftig nicht mehr mit uns Preußen in irgendwelche Händel gegen Österreich einmischen wird?“ „Davon haben wir gehört, Sire!“ „Was wißt Ihr über die Hilfe, die der französische König Österreich versprochen hat?“ „Nicht sehr viel, Sire!“, versetzte Dévillier. „Bei uns im Lager wurde kaum darüber gesprochen; doch gab es Gerüchte, nach welchen ein militärischer Sukkurs von ohngefähr hunderttausend Mann zugesagt worden sein soll!“
„Alle Wetter!“, versetzte der Hauptmann; „wenn dieses Gerücht in der Tat wahr sein sollte, dann wird unserem glücklichen Preußen noch einiges bevorstehen!“
Man ging wieder in Schweigen über. Es mochte etwa eine weitere Stunde vergangen sein, als sich in der Ferne immer deutlicher die Umrisse von Dächern und Türmen in den Himmel zu zeichnen schienen. Die Sonne stand jetzt auf geradem Wege über dem westlichen Rande der Ebene und funkelte in wechselnder Helle über die weite Fläche. Die Vogelstimmen waren seltner geworden, und der Flußlauf schien nun mit einemmal gleichsam näherzurücken.
Indem sie so weiter zuritten, wuchsen die Dächer der Stadt immer höher über den Rand der Ebene empor. Der Gefangene blickte auf und warf einen fragenden Blick nach dem Hauptmanne zurück. „Das ist Dessau, Dévillier“, schien jener die Frage desselben gleichsam zu erraten, „welches zugleich die Endstation Eurer Reise sein wird! Wir werden Euch jetzt der dort vor Ort liegenden Garnision übergeben! Dort werdet Ihr vorerst bleiben, bis sich Euer weiteres Schicksal entschieden haben wird!“ Der junge Gefangene schwieg. „Um ganz ehrlich mit Euch zu sein“, fuhr der Hauptmann in jener seinem Gefangenen geläufigen Sprache fort, „Ihr gefällt mir irgendwie; sollte sich herausstellen, daß Ihr die Wahrheit gesprochen habt, so kann ich vielleicht bei meinem Regiment ein gutes Wort für Euch einlegen!“ „Wahrhaft, Sire“, rief jener aus, „würdet Ihr das wirklich für mich tun wollen?“ „Warum nicht?“ versetzte der Hauptmann. „Euren Berichten zufolge seid Ihr ja immerhin Premier-Lieutnant bei der Kavallerie gewesen. Tüchtige Offiziere können wir hier in Preußen jederzeit gebrauchen! Solltet Ihr aber, Dévillier“, fuhr der Offizier gleichsam einlenkend fort, „uns an der Nase herumführen wollen, so werde ich der erste sein, der Euch standesrechtlich erschießen lassen wird! Ich hoffe für Euch, mich deutlich genug ausgedrückt zu haben!“ Der Gefangene nickte stillschweigend.
Wortlos legte die Gruppe mit dem Gefangenen die letzte Strecke Weges zurück. In der Stadt angekommen, führte man den letztern geradewegs vor einen etwas dickbäuchigen, rotbackigen Offizier hin, welcher allem Anscheine nach den Oberbefehlshaber der in der Stadt liegenden Garnision vorstellte und an seinen Rockaufschlägen die Farben des Regimentes der Dessauer trug. „Sieh da, Herr Hauptmann von Retzow“, versetzte jener, indem er sogleich einen flüchtigen Blick auf den ihm Vorgeführten warf, „ei, sagt, wen bringt Ihr uns denn da zur Überwachung?“ „Der Kerl da, Oberst“, gab der Hauptmann zur Antwort, „gibt vor, ein französischer Dragoner zu sein! Wir haben ihn kurz vor Brachstedt in einem Wirtshaus bei Peternheide aufgelesen, ein ganz abscheuliches Loch! Dort ist er in einen Raufhandel mit den Ortsansässigen verwickelt worden, und wir haben ihn kurzerhand mitgenommen! Aber genug, steckt ihn nur gleich in den Fuchsbau, Oberst, bis wir herauskriegen, was es mit dem Kerl da für eine Bewandtnis hat! Ich werde Euch bei Gelegenheit Nachricht senden lassen, was mit dem Kerl weiter geschehen soll!“
„Wohin reitet Ihr jetzt, Retzow?“ frug der Oberst, indem er, ohne irgend weitere Umstände zu machen, sogleich nach den Wachen schicken ließ. „Wir müssen unverzüglich weiter nach Potsdam“, gab der als Hauptmann Retzow Angesprochene zur Antwort, „so lautet unser Auftrag! Zur Zeit ist sowieso der Teufel los; die Schweden liegen mit etwa fünfzehntausend Mann bei Stralsund und wir haben nur eine Handvoll schwache Landbataillone in der Gegend! Lehwaldt wurde aufgetragen, seine Truppen zur Verstärkung nach Pommern zu bringen, um zu verhindern, daß wir die Schweden bald in Brandenburg haben!“
„Wir haben davon gehört“, entgegnete der Dessauer; „nur gut, daß die Russen nach dem Scharmützel bei Groß-Jägersdorf nicht in Ostpreußen geblieben sind!“
„Ein Glück, wahrlich“, fuhr Retzow fort, „daß Apraxin allem Anscheine nach schwer mit der Versorgung seiner Bataillone zu kämpfen hat! So mußte er sich gar wieder bis auf Tilsit zurückziehen, wie man gehört hat!“
„In der Tat“, versetzte der Dessauer, „da scheint sich ja wirklich allerhand zusammenzubrauen! Wenn wir nur wüssten, wie man daran ist, wenn man überall sagen hört, daß nun auch die Franzosen in den Krieg eingreifen wollen; so sollen sie erst unlängst darüber beraten haben, mit einer beachtlichen Einheit nach Sachsen vorzustoßen!“
„Der Kerl da“, versetzte Retzow, indem er mit dem Kopfe nach Dévillier wies, der noch immer wartend dastand, „hat mir während des Rittes etwas von insgesamt hunderttausend Leuten erzählt, zumindest behauptet er, etwas dergleichen bei den Franzosen gehört zu haben! Ich wenigstens glaube, daß der König darauf gerechnet hat, die Franzosen nach Kolin dazu bewegen zu können, sich aus der ganzen Angelegenheit herauszuhalten!“
„Das glauben viele hier“, entgegnete der Oberst; „man schwatzt so allerlei! Angeblich soll man die Pompadour – Ihr kennt ja ihren großen Einfluß und was sie bei Hofe alles gilt – sogar zu korrumpieren versucht haben, denselben Willen beim französischen Könige durchzusetzen!“
„Weiß der Teufel, Oberst!“ versetzte Retzow; „der König jedenfalls beabsichtigt nun, das Heer so gut als nur irgend möglich an einem Punkte zusammenzuziehen, um den Bestrebungen Österreichs und Frankreichs Einhalt zu tun!“
„Wir werden sehen!“, schloß der Dessauer, während man im Vorzimmer eine Türe sich öffnen hörte und gleich darauf zwei Hauptwachen in dem Raume erschienen. Ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, führten sie den Gefangenen allsogleich in ihrer Mitte hinfort. Der konnte gerade noch sehen, wie Retzow, mit dem er hierhergekommen war, sich von dem dickwanstigen Oberst verabschiedete und nach draußen ging, ehe er nun selbst durch einen engen Korridor davongeführt wurde. Einen Augenblick lang überlegte er, sich mit einer Frage an seine Begleiter zu wenden, wo sie ihn denn nun hinbringen und was jetzt weiter mit ihm geschehen werde, doch zur Überzeugung gelangend, daß ja am Ende doch alles nicht anders würde und daß jene vermutlich kaum französisch verstünden, fuhr er endlich in seinem Schweigen fort.
So erreichten sie nach einem Weilchen über eine steinerne Treppe, welche in ein unterirdisches Gewölbe mit dicken Mauern führte, den Gefangenentrakt. Einer seiner beiden Begleiter löste hierauf einen dicken Schlüsselbund von seinem Gurte und entriegelte schließlich eine mit schweren Eisenbeschlägen versehene Türe von mächtigen Eichenbohlen. Dumpfer Modergeruch schlug ihnen entgegen.
„Das hier wird fürs erste Euer Quartier in Preußen sein“, versetzte einer der Wachen in schlechtem französisch; „indessen hoffe ich sehr, daß Ihr uns dessenungeachtet, faute de mieux sozusagen, nicht etwa für schlechte Gastgeber halten mögt!“
Der andere der beiden Begleiter, der offenbar ebenfalls ein wenig französisch verstand und über die Worte seines Kameraden lachte, hatte unterdessen einen Fidibus an seinem Gürtel angerissen und ließ den Schein der Flamme ringsum über die Mauern schweifen.
„Seht Euch Euere Luxusherberge nur recht ordentlich an“, fuhr der eine in seiner scherzhaften Weise weiter fort, „auch die cuisine ist wahrhaft vorzüglich: Wasser und Brot für Euch, aber solltet Ihr Euch gut führen, so werden wir Euch hier schon nicht gleich verhungern lassen!“ Die beiden preußischen Wachen lachten wieder, und indem sie kehrtmachten und den Kerker verließen, klirrte der Riegel und der Schlüssel knirschte im Schloß. Bald waren ihre Schritte in dem langen Gange verhallt.
Der Gefangene befand sich nun ganz alleine und sah sich um. Der Raum, eine Rotunde, war mehr hoch als breit. Ohngefähr in mehr als doppelmannsgroßer Höhe befand sich knapp unterhalb der Decke ein kleines, mit starken Eisenstäben vergittertes Fenster, welches noch etwas an Tageslicht einließ, gerade soviel, daß man bei angestrengtem Hinsehen die Verhältnisse der Örtlichkeit zu unterscheiden vermochte. Die Decke und die Mauern schienen feucht, denn zuweilen konnte Dévillier das Geräusch von Wassertropfen vernehmen, welche von der Decke auf den glitschigen Boden fielen, auf dem sich in einer Vertiefung des Fußbodens eine kleine Wasserpfütze gebildet hatte. Die Ausstattung des Raumes erschöpfte sich in einem dürftigen Strohlager, welches als Schlafstätte dienen sollte, sowie einem gleich daneben auf dem Boden stehenden, irdenen Krug, welcher noch halb mit Wasser gefüllt war. Dévillier griff nach dem Krug und roch daran. Das Wasser schmeckte modrig, jedoch schüttete er es nicht aus, sondern stellte den Krug wieder an seinen Platz. Nachdem der Häftling den knappen Kreis des Raumes ein paarmal durchmessen hatte und zu dem Entschluß gelangte, daß er hier wohl nichts anderes würde tun können als warten, bis sich sein weiteres Schicksal entschieden habe, warf er sich, angekleidet wie er war, auf das Strohlager. Allmählich, nachdem er eine Weile so gelegen hatte, stiegen vor seiner Seele wieder all jene Bilder empor, wie sie sich seit seiner Flucht aus der Heimat zugetragen hatten – jener Tag, an dem er mit einigen anderen seines Regimentes ausgezogen war, um sich den freien Tag auf der Jagd zu vertreiben. Im Walde hatten sie gar bald einen Hirsch aufgespürt, er, Dévillier, führte die gekoppelten Hetzhunde, welche er bei passender Gelegenheit auf den Hirschen loszulassen gedachte. Mit einemmal hatte er aus dem benachbarten Dickicht einen Ruf – „Die Hunde los!“ – vernommen; rasch hatte er die Meute ihrer Bande entledigt, welche alsogleich wie toll bellend in den Forst entsprang. Nach nur kurzer Zeit vernahm er mit einem Male einen hellen Angstschrei – so voller Todesangst, wie er ihn noch niemals in seinem ganzen Leben vernommen hatte – es schien eine weibliche Stimme zu sein – und ein Schauder durchbebte noch immer all seine Glieder, sooft er daran zu denken genötigt ward! Spornstreichs trieb er sogleich sein Roß zum Lauf und erreichte nach wenigen Augenblicken eine kleine Lichtung inmitten des Waldes – ein junges, schwangeres Weib lag dort verblutend unter den Hetzhunden, welche noch blutdürstend und in wildem Ingrimm an ihrem Opfer hingen. Zwei seiner Jagdgefährten waren ebenfalls an dem schrecklichen Orte angelangt; der Ausdruck wildester Bestürzung und Grauens spiegelte sich in ihren entsetzten Gesichtern. Er selbst schlug in wilder Verzweiflung die Hände vor das Angesicht. Kaum noch konnte er das Unfaßbare recht begreifen, als er jene sich beständig wiederholenden Worte zu vernehmen glaubte: „Was habt Ihr bloß angerichtet, Dévillier!“ – „Wie konntet Ihr nur die Hunde loslassen!“ – „Verdammt, Dévillier, was habt Ihr gemacht?“ – „Habt Ihr das Frauenzimmer denn nicht gesehen?“
„Ihr selbst habt befohlen, die Hunde loszulassen, Broussin“, hatte der verzweifelte Dévillier ausgerufen, „ich konnte unmöglich das Weib gesehen haben!“
Kaum bemerkte er, daß die übrigen die Hunde jetzt mit Peitschen davontrieben und einige unter ihnen sogleich vom Pferde sprangen, um der Unglücklichen beizuspringen. Bald jedoch erkannte man in demselben Weibe ihres Kommandanten, des Grafen von Chantilly Eheweib, der nicht an der Jagd teilgenommen hatte, in dessen Besitzungen man sich jedoch aufhielt und dessen Gastfreundschaft man genoß. Aus unerfindlicher Ursache schien die junge, schwangere Frau bei einem ihrer häufigen Spazierginge, welche sie zur Sommerszeit in der nahegelegenen Gegend zu unternehmen pflegte, mitten in die Jagd geraten zu sein! Bald stellte man zum größten Erschrecken aller fest, daß die Frau von den Hunden, nachdem sie beim Auftauchen derselben in ihrer namenlosen Furcht vermutlich die Flucht ergriffen hatte, zu Tode gebissen worden war. Starr vor Erschrecken stand nun die sämtliche Gesellschaft zu Pferde auf der Lichtung versammelt, zu ihren Füßen die Tote, in namenlosem Grauen starrte man einander ins Antlitz.
„Verflucht, wie in Teufels Namen konntet Ihr nur die Hunde loslassen, Dévillier!“ rief Broussin wiederum aus.
„Was wollt Ihr damit sagen, Broussin?“ hatte Dévillier in wilder Verzweiflung ausgerufen.
„Zum Teufel, Bursche“, fuhr Broussin auf, „ohne Euch wäre das Weib jetzt noch am Leben!“
„Wollt Ihr, Broussin“, schrie Dévillier jetzt in tiefster Entrüstung, „mich etwa gar des Todes an dieser Frau schuldig zeihen, der Ihr selbst mir geboten habt, die Hunde von der Koppel zu lassen?“
„Jawohl“, schrie nun Broussin, „Ihr alleine seid daran schuld, daß wir jetzt alle in der Patsche sitzen!“
Nun mischten sich auch die übrigen in den Handel ein und suchten die beiden Kampfhähne voneinander zu trennen und stattdessen auf eine vernünftige Lösung der Dinge zu dringen.
„Ah bah“, fuhr Broussin daraufhin im glühendsten Eifer fort, „sollen wir uns denn jetzt alle von Chantilly vor das Gericht schleppen und erschießen lassen um der Ungeschicktheit eines einzelnen willen? Das werdet ihr doch wohl hoffentlich selbst einsehen, daß es uns jetzt tüchtig an den Kragen gehen wird, wenn wir den Vorfall nicht vernünftig erklären können!“
„Das sollt Ihr nicht umsonst gesagt haben, Broussin!“ hatte Dévillier geschrien, hatte rasch im Herbeireiten einen seiner Handschuhe von den Fingern gestreift und denselben Broussin mitten ins Gesicht geschlagen. „Ihr sollt es am eigenen Leib erfahren“, war er in seiner Rede fortgefahren, „daß man einen Mann von Ehre nicht ungestraft einer Schandtat zeihen darf, deren Ihr selbst genauso verantwortlich seid wie jeder einzelne, wie wir da nur zu Pferde sitzen! Auf Rapier oder Pistolen, das überlasse ich Euch, aber auf Leben und Tod!“
Nun, da die Gefährten also derart ihre eigene Wohlfahrt besorgt sahen, schienen sie keineswegs auf eine Verhinderung der unseligen Entwicklung zu drängen; einige wohl suchten die übrigen zu bereden, daß man unter keinen Umständen zulassen könne, daß sich zwei Regimentskameraden untereinander schlügen, doch wurden diese sogleich von den mehreren niedergestimmt. Wie es nun bei derartigen Situationen häufig zu geschehen pflegt, schienen die meisten heimlich nur allzusehr um den eigenen Hals besorgt, und wer des Grafen Strenge kannte, der wußte nur allzu wohl, daß er die Schuldigen an dieser Untat gnadenlos würde vor das Gericht stellen lassen und mit den strengsten aller möglichen Strafen ahnden. Solchermaßen gewitzigt, waren die meisten in ihrem grenzenlosen Schrecken sowie jener Furcht vor einer schweren Strafe versucht, einen Einzelnen für die Tat verantwortlich zu sehen; man sah es deshalb heimlich nicht ungerne, daß zwei der ihrigen nun miteinander in Streit geraten waren. Wutentbrannt hatte Broussin nun nach Dévilliers Tat sogleich seine Terzerolen vom Bandelier gerissen und jenem ins Gesicht geschrien: „Auf der Stelle, Dévillier, hier und jetzt, auf der Stelle will ich mich mit Euch schießen, und nicht eher werde ich von Euch ablassen, als Ihr vor mir tot im Staub liegt wie jenes Weibsstück dort drüben!“
Daraufhin war er aus dem Sattel gesprungen. Auch Dévillier hatte seinem Beispiele gefolgt, und aus dem Kreise der Jagdgefährten wurden nun die Sekundanten bestimmt; einige erboten sich sogleich für Broussin, nur ein einziger – der treue Armand, der ihm stets der liebste unter all seinen Kameraden gewesen war – für Dévillier. Das tödliche Spiel konnte beginnen, die Rivalen nahmen im Abstande von hundert vorher genau abgezählten Schritt gegenüber Aufstellung. Das Los bestimmte Broussin zum ersten Schützen, der erhielt von seinem Sekundanten das Pistol, Dévillier das seinige von Armand. Auf ein Zeichen hin begannen die beiden Gegner Schritt für Schritt aufeinander zuzumarschieren, Broussin feuerte sein Pistol auf Dévillier ab und durchlöcherte dessen Hut. Jetzt feuerte seinerseits Dévillier, doch er verfehlte wie zuvor sein Gegner knapp das Ziel. Nun feuerte, unter beständigem Näherschreiten, Broussin ein Zweitesmal das Pistol ab, man sah Dévillier schmerzhaft zusammenzucken, und gleich darauf begann sich der Halsansatz oberhalb der Schulter rot zu verfärben. Dennoch riß jener jetzt seinerseits wieder die Waffe empor; der Schuß fiel, der Pulverdampf umwirbelte die Schützen; Broussin zuckte wie im Krampfe zusammen, die Brust verfärbte sich augenblicklich dunkelrot, und um die eigene Achse wirbelnd, schlug er schwer auf den Boden hin, während das Pistol seinem kraftlosen Arme entfiel. Sogleich eilten die Gefährten auf den Gestürzten hinzu. Jenen hatte die Kugel mitten ins Herz getroffen.
Der blutende Dévillier hatte sich sogleich auf sein Pferd geschwungen. Er wußte nur allzu deutlich, daß es hier für ihn kein Bleiben mehr geben konnte. Die Würfel waren gefallen, er hatte einen Kameraden im Duell erschossen, jedermann würde ihn für den Mörder der jungen Gräfin halten. „Wenn Ihr ein bißchen Mitleiden mit mir habt“, hatte er seinen Kameraden noch vom Stegreif aus zugerufen, „so laßt mir ein klein wenig an Vorsprung! Ihr wißt, daß dies meine einzige Chance ist, mein Leben vielleicht doch noch zu retten!“ Dann hatte er, noch stark blutend, das Pferd herumgerissen und war über die Lichtung nach dem Walde davongesprengt. Er war noch nicht allzuweit gekommen, da hörte er eine Stimme in seinem Rücken seinen Namen rufen, und als er das Haupt wandte, sah er Armand hinter ihm einhersprengen, immerzu verzweifelt seinen Namen rufend. Da hatte er denn endlich sein Roß gezügelt, und Armand, mit Tränen in den Augen, drückte ihm schweigend dessen eigenen Waffenstücke in die Hand und meinte mit erstickter Stimme, er möge ihrer vielleicht schon bald bedürfen. Da warf sich der Freund nun unter den heißesten Tränen dem Freunde in den Arm, beide schienen zu fühlen, daß es ein Abschied für immer sein mochte, und weinend stammelte Armand: „Wohin wirst du dich nun wenden, Jerôme? Man wird allenthalben nach dir suchen lassen!“
„Besorge nichts um meinetwegen, geliebter Armand“, hatte er seinerseits unter Tränen ausgerufen, „besorge nichts um meinetwegen; nach Preußen will ich versuchen zu fliehen, in des Königs Friedrich Land, da sollen angeblich alle Verfolgten eine Zufluchtsstätte finden, und er soll uns Franzosen stets freundlich gesonnen gewesen sein! Solltest du aber selbst einmal nicht mehr wissen wohin“, fuhr er nun feierlich fort, „so folge selbst mir nach, und so Gott will, werden wir uns einst noch irgendwann wiedersehen!“ Dann hatte er sich schluchzend von dem Freunde losgerissen, indem er das Pferd wandte – „Lebe wohl, mein geliebter Armand, lebe wohl! Gott segne und schütze Dich!“ – und war anschließend in wildem Galopp über den Wald davongesprengt.
All jene Begegnisse lagen jetzt wohl bereits ein paar Wochen zurück. Nachdem er die heimatlichen Grenzen hinter sich gelassen hatte, mußte er sich, völlig mittellos, wie er war, in ihm unbekannten Gegenden durchschlagen. Auch war er dabei einer beständigen Gefahr ausgesetzt, da der Herzog von Richelieu unterdessen weite Teile von Hannover und Braunschweig besetzt hielt und er auf diese Weise immer besorgen mußte, von französischen Patrouillen aufgespürt und verhaftet zu werden. Mehr als nur einmal lief er unterwegs Gefahr, von französischen Soldaten in Gefangenschaft gesetzt zu werden, und nur außerordentlich glücklichen Umständen war es zu danken, daß er ihnen jedesmal entwischen konnte. Es war zweifelsohne ausgemacht, daß, wäre er von seinen Landsleuten aufgegriffen und seine Person identifiziert worden, er als ein landesflüchtiger Kriegsverbrecher sogleich exekutiert worden wäre. So nahm er seinen Weg denn durch die feindlichen Linien – sintemalen er ja seinen Landsleuten aus jenem bekannten Grunde auszuweichen genötigt war und er als Franzose auch unter den Deutschen nur höchst widerwillige Aufnahme erfuhr – und suchte sich auf diese Weise bis nach Preußen durchzuschlagen. Manchmal hatte er auf Tage nur wenige Bissen zu essen; zuweilen aber traf er doch auf Menschen, welche sich seiner annahmen und ihm ein Stück Brot oder zuweilen gar einen Bissen Wildbret zusteckten oder eine Schale Milch reichten. So gut es anging, versuchte er die offenen Landstraßen zu vermeiden und wandte sich an dessen statt querfeldein. Hier, inmitten von Wald und Flur, gab es allerlei Feldfrüchte und Beeren, deren er habhaft werden konnte, seinen Hunger zu stillen, und so manches muntere Bächlein sorgte seinen Durst zu stillen. Doch nicht immer empfing man den Fremden so wohlwollend; mehr als nur einmal ward er unter wüsten Schimpfworten von der Schwelle gejagt, manchmal sogar mit Hunden – und einmal war es gar vorgekommen, daß man hinter ihm hergeschossen hatte – ohne ihn jedoch weiter zu verletzen. So war er nach wenigen Wochen allmählich bis an die sächsischen Gemarkungen gelangt; hier hatte er schließlich, in seiner Not, einem Husaren unterwegs seine Terzerolen feilgeboten, um auf diese Weise zu etwas Geld zu gelangen. Jener Husar hatte bald herausgefunden, daß er, Dévillier, sich in einem außerordentlichen Verhältnisse befand und diesem einen Preis geboten, der weit unter dem üblichen lag, den man gewöhnlich für derlei Waffenstücke geboten hätte; in Anbetracht der Umstände jedoch willigte der Bedrängte ein und war schließlich froh, seine Reise mit ein paar Kreuzern in der Tasche fortsetzen zu können. So hatte er nach mancherlei Querelen endlich die sächsischen Lande erreicht und seinen Weg wacker nach der Mark Brandenburg fortgesetzt, wo er hoffte, in preußische Kriegsdienste aufgenommen zu werden. Schon schien er seinem Ziele immer näher gekommen, bis er – an jenem heutigen Nachmittage – beschlossen hatte, das freie Feld zu verlassen und auf die Heeresstraße zurückzukehren. Dort war er schließlich, wie wir erfahren haben, von preußischen Dragonern in jenem Gasthause an der Landstraße festgesetzt und endlich hierher nach Dessau – wie ihm gesagt worden wäre – geschleppt worden. Und hier harrte er nun, in Festungshaft gesetzt, seines weiteren Schicksals, von welchem er weniger wußte als er jemals zuvor gewußt zu haben glaubte. Den Anfechtungen seiner Landsleute wenigstens schien er entkommen; doch bezweifelte er heimlich, daß ihn hier, in einem märkischen Kerker, ein besseres Geschick ereilen möge!
Unter solcherlei Betrachtungen schreckte er endlich auf und stellte mit einem Blick auf das Fenster unterhalb der Decke fest, daß draußen unterdessen vollständiges Dunkel herrschen mußte! Zuweilen glaubte er von ferne her Stimmen zu vernehmen; doch konnte er sich nicht davon überzeugen, ob jene Stimmen nur eine Einbildung seiner exasperierten Phantasie waren, oder ob sie in der Tat existieren mochten. Den einzigen Laut, den er wirklich vernahm, war jener, welchen die Wassertropfen verursachten, sooft sie sich von der feuchten Decke lösten und in die Lache zu seinen Füßen fielen. Ansonsten kein Laut in dem stillen Gelaß, kaum, daß er die Hand vor seinem Auge zu gewahren vermochte. Indem er so eine Weile unter angestrengtem Horchen auf dem Strohbette gesessen hatte, warf er sich schließlich vollends darauf nieder, und fühlte nun zu seiner nicht geringen Erleichterung, daß sich ein zerschlissenes Plaid auf demselben befand. Es hatte nämlich begonnen, in dem Raume merklich abzukühlen. Schließlich lag er mit geschlossenen Augen auf dem Lager, und all jene Bilder, deren er zuvor noch eben gedacht, schienen nocheinmal, ungeordnet und wirr, durch sein Gehirn zu kreuzen. Zuletzt blieben seine Gedanken an einem Gegenstande haften – einem Gegenstande, dessen er mit einiger Wehmut zu gedenken schien; als er noch bei St. Germain, in seiner Heimat, in Garnision gelegen – ja, da hatte er auf einem Hofballe in der Residenz ein gar artiges Mädchen kennengelernt! Sie hatten sich darnach einige Male zum Stelldichein getroffen – aber sie war ein leichtfertiges Mädchen gewesen, wie er bald erfuhr, und hatte sich seiner nur zu ihrem Vergnügen, zu müßigem Zeitvertreib, bedient. Er, Dévillier, aber war ihr von ganzem Herzen zugetan gewesen – und umso weher mußte ihm ums Herz werden, als er merken mußte, daß seine Gefühle nicht in entsprechender Weise erwidert wurden – so wie wir eben oft gerade dann am schmerzlichsten berührt werden und an einer Liebe dann den leidenschaftlichsten Anteil zu nehmen geneigt sind, wenn sie vergeblich ist! Die Tränen liefen dem Darniederliegenden bei diesen wehmutsvollen Erinnerungen über die Wangen! Endlich, von den Nöten und Entbehrungen einer langen, gefahrenvollen Reise und ihrer Unbilden ermattet und erschöpft, sank er alsogleich in einen tiefen Schlummer.




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