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LESEPROBE

Aus: Thomas von Kienperg, Dämmerstunden der Vergangenheit, Eine Jugenderinnerung, Roman

Les plaisirs nous préparent leurs charmes
ne songeons plus qu’à passer de beaux jours!
Si le ciel nous fit verser des larmes,
un heureux sort en arrête le cours.
Puisqu’un héros fait cesser nos alarmes,
cherchons les ris, les jeux et les amours!

Derlei schwermütige Gedanken vor mich hinwälzend, schritt ich an einem schönen Spätsommernachmittag dem Dorfe entgegen. Ich befand mich eben auf dem Nachhauseweg von einem meiner Vetternbesuche, und ich will aufrichtig bekennen, daß ich diese meine Besuche auch in der Hoffnung unternahm, Irenen zu begegnen, da ich wußte, daß sie und ihre Schwester gerne und häufig mit meiner Base Gunda zusammenwaren. Nur selten war ich in meinen Absichten so glücklich gewesen: denn zumeist hielten sich die Mädchen in der Umgebung des Pferdehofes auf, sodaß ich keine Möglichkeit sah, eine unauffällige Zusammenkunft mit Irene ins Werk zu setzen, ohne daß ich mich dabei lächerlich gemacht hätte. Auch diesmal hatte ich nur meinen Vetter Matthias angetroffen, mit dem ich mich, zusammen mit zwei anderen Knaben des Dorfes, in einem Baumhaus herumgetrieben hatte, das mein Onkel in den Ästen eines großen Nußbaumes seines Gartens errichtet hatte und wo wir Kinder schon des öfteren unseren Spielen obgelegen hatten.
Als ich nun den an dieser Stelle von dichten Holundergebüschen gesäumten Fahrweg entlangschritt, wo jenseits der Wiese der stattliche Pferdehof mit seinen schönen, blumengeschmückten Altanen und prächtigen Orchard aus hochstämmigen Obstbäumen mit breiten Kronen winkte, da beschloß ich aus einer plötzlichen Laune heraus, einen Umweg über einen Feldweg zu nehmen, der just an derselben Stelle vom Fahrweg ausbog und der mich nahe am Pferdehof vorüberführen würde: mein innerer Drang, Irenen zu begegnen, war so groß, daß ich viel darum gegeben hätte, sie nur flüchtig aus der Ferne zu sehen. Ich bog also zwischen den Zäunen in den Pfad ein, welcher in der Mitte nur eine schüttere Grasnarbe zeigte, wo Spitzwegerich und Ampfer sproßten. Langsam schlenderte ich den Zaun entlang, und das umso zögerlicher, je näher ich dem Gehöfte kam: in mein heimliches Gefühl der Sehnsucht, Irenen zu begegnen, begann sich nun jene so widersprüchliche Empfindung zu mischen, die mich hoffen ließ, ich möchte an dem Gehöfte vorüberkommen, ohne von jemand bemerkt zu werden. Und in der Tat scheint jenes Zwiespältige, das unsere Gefühle in dieser Hinsicht bezeichnet, einer der zutiefst menschlichen Eindrücke überhaupt zu sein: wir sehnen etwas mit der ganzen Innerlichkeit unseres Wesens herbei, und dann, sobald der Augenblick der Entscheidung naht, befällt uns jähe Bangigkeit und wir hoffen, es möge der Kelch an uns vorübergehen!
Doch für diesmal sollte es anders kommen: denn als ich nun um eine dichte Weißdornhecke bog, gewahrte ich plötzlich, nur noch ein kurzes Stück Weges vor mir, ein Mädchen, das eine schöne, isabellfarbene Stute am Zügel entlang des Zaunes longierte und in dem ich sogleich Irene erkannte. Ich schrak innerlichst zusammen und erinnere mich, wie ich mich sogleich unwillkürlich wieder hinter die Hecke zurückzog, um mich der inneren Sammlung zu überlassen: noch hatte sie mich nicht bemerkt, noch konnte ich kehrtmachen! ‒ Ich blickte durch die Lücken des Laubwerks gegen die Berge hin: zarter Schattenduft lagerte vor den hohen Zinnen, die ins Gegenlicht der Sonne getaucht waren und wob einen geheimnisvollen Schleier um alle Ferne; darüber hing der blanke Himmel wie eine große, blaue Glocke, am Horizont von einigen weißen Wölkchen durchschifft, vor mir im Gebüsch summten die Bienen, und vom nahen Feldrain her ertönte das einförmige Zirpen einer Grille. Ein schöner, weißer Apollofalter gaukelte vor mir über den Weg, sodaß ich für einen kurzen Augenblick innehielt: mir war so wunderlich zumute! Endlich, da ich bemerkte, wie Irene sich auf ihrem Weg entfernte, trat ich mit beinahe ängstlicher Hast hinter meinem Verstecke hervor, als könne ich den rechten Augenblick dazu versäumen und setzte meine Wanderung fort, bis sie mich erblickte; Irene hatte mich augenblicks erkannt und wandte das Pferd am Halfter sogleich nach meiner Richtung hin.
„Ei sieh, der Christoph“, sagte sie, noch ehe ich ein Wort der Begrüßung zu sprechen imstande war, „so sieht man dich also auch einmal wieder? Wir sind uns in den ganzen Ferien ja kaum einmal begegnet!“
„In der Tat, Irene“, versetzte ich daraufhin, und, da ich nicht wußte, was ich weiter sagen sollte, setzte ich zaghaft hinzu: „Du hast da ein ganz wunderschönes Pferd! ‒ Gehört es dir?“
„O ja, vielen Dank!“ sagte sie nun, „sie ist noch ziemlich jung und hört auf den Namen Sternschnuppe, ich habe sie erst heuer zu Beginn der Ferien von meinen Eltern geschenkt bekommen! Vielleicht hast du ja Lust“, fuhr sie plötzlich fort, „uns ein wenig zu begleiten? Ich bin eben im Begriff, mit Sternschnuppe einen kleinen Ritt über die Felder zu tun!“
„Aber Irene“, versetzte ich in etwas schüchternem Tone, „du weißt doch, daß ich nicht reiten kann!“
„Ist auch nicht notwendig!“ rief sie aus. „Du brauchst nichts weiter tun als rückwärts aufsitzen und dich an mir festhalten! ‒ du wirst sehen, es ist ganz einfach!“
Ich stand unschlüssig da, doch noch ehe ich zu einer Antwort gelangen konnte, hatte Irene das Pferd auch schon an den Zaun geführt, und mit einer Überzeugung, die keinen Widerspruch zu dulden schien, zeigte sie mir, wie ich es machen müsse, auf den Rücken des Pferdes zu gelangen. Sie assistierte mir, damit ich bequemer an den Stegreif gelangte, und nach einiger Mühe saß ich hoch droben auf dem Pferderücken; mit einem flinken Satz schwang sich Irene vor mir in den Sattel, und als sie nun gebot, ich möge meine Arme fest um sie legen, damit ich nicht etwa unversehens den Halt verlöre, da ward mir so sonderbar zumute, daß mich ein jäher Schwindel befiel. Schüchtern schlang ich meine Arme um ihre schlanke Taille.
„Du mußt dich schon ein wenig fester halten, Christoph“, wandte sich Irene unternehmungslustig nach mir zurück, „warte nur einmal, bis ich Sternschnuppe richtig lostraben lasse, da mußt du schon obacht geben!“
Obschon ich gestehe, daß ich ein wenig Angst hatte, mühte ich mich, mir nichts davon anmerken zu lassen. Zunächst lenkte Irene die Stute gemächlichen Ganges den Feldweg entlang, sodaß ich Gelegenheit erhielt, meine Aufmerksamkeit, soweit ich in meinem verwirrten Zustande noch Herr meiner Sinne war, meinen Beobachtungen zuzuwenden. Irene war größer als ich, immer wieder umflatterte mich ihr langes Blondhaar, das einen wunderbaren Duft verströmte; sie trug ein schlichtes, weißes Sommerkleid, das die Schultern bloß ließ und die nackte, von der Sonne gebräunte Haut zeigte. Ganz fraglos war dieses zehnjährige Mädchen noch ein Kind, doch an einer feinen, unscheinbaren Wölbung ihrer Brust, die sich unter dem dünnen Kleide fast unmerklich zu erkennen gab, vermeinte ich das erste, zarte Knospen des jungfräulichen Busens zu erraten; der untere Saum ihres Kleides ward in der Mitte vom Sattel gleichsam gerafft und fiel über die schlanken, von der Sommersonne gebräunten Schenkel zurück; kaum wagte ich, ihre Hüfte zu berühren.
Als wir um eine Wegbiegung ritten, die das Gehöft unseren Blicken entzog, blitzten mich Irenens Augen herausfordernd an.
„Jetzt aber auf, Christoph“, rief sie übermütig aus, „jetzt sollst du einmal sehen, wie das im Trab geht, halt dich ordentlich fest!“
Ein kurzer Zuruf genügte, und das Pferd setzte sich in einen anmutigen Trab, und da ich wohl erkannte, daß ich mich tatsächlich vorsehen mußte, wollte ich nicht unversehens vom Pferde fallen, schlang ich meine Arme fester um Irenens Taille; kaum vermochte ich auf den schönen Sommernachmittag zu achten, so sehr durchströmten mich Schauer des Glücks, als ich mich nun so eng an Irene geschmiegt sah, die über ihrem kühnen Beginnen in immer größere Lust entbrannte!
„Hab’ acht, Christoph“, rief die kleine Amazone nun aus, „mit dir will ich wagen, was ich noch mit keinem sonst gewagt habe! Du mußt dich aber ordentlich festhalten, hörst du?!“
Sie bog vom Reitwege auf ein frisch abgeerntetes Stoppelfeld aus, beugte sich nach vorwärts und flüsterte dem Pferde allerhand Dinge ins Ohr, tätschelte ihm zärtlich Hals und Mähne und rief wie eine Mänade aus: „Allez hopp, Sternschnuppe – drauf und dran! Durch Wald und Flur, über Hecke und Zaun ‒ allez hopp, auf im Galopp!“
Mit einem Male schnellte das Pferd wie ein Pfeil vom Platze, daß ich mich ängstlich an Irene anklammerte; diese spornte das Tier zu immer schnellerem Lauf, wir flogen über das freie Feld hin wie der Wind, das Blondhaar Irenens flatterte mir um Gesicht und Stirn, und trotz aller geheimen Furcht, die ich beim nun immer rasenderen Galopp empfand, fühlte ich eine unnennbare Wonne mein Inneres durchströmen, da wir wie in wildem Rausch aneinanderhingen. Wir rasten geradewegs auf einen Wassergraben zu, der vor uns die ganze Breite des Feldes durchschlängelte.
„Allez-hopp!“ rief Irene, und in gestrecktem Sprunge ging es über das Rinnsal hinweg, dann im Fluge über das Feld hin, so schnell, daß sich Vorderbeine und Hinterbeine des Tieres bei jedem Ausgreifen fast überkreuzten. Wir rasten auf einen morschen Bretterzaun hinzu.
„Allez-hopp!“ rief Irene aus, und in kühnem Fluge ging’s über den Zaun hinweg und in gestrecktem Galopp auf einen zweiten Zaun hinzu, hinter dem sich zu allem Überflusse noch eine Haselhecke verbarg.
„Achtung, Christoph“, rief sie mir begeistert zu, „ich hab’s schon versucht, also immer mutig vorwärts!“
Unter dem Druck seiner Reiterin straffte das Pferd sich zum Sprung, wir flogen über den Bretterzaun, daß die Planken unter den Hufen splitterten, das Tier landete, straffte sich wieder, flog zwei, drei Pferdelängen fürbaß, bereitete sich zum Sprung, wir flogen rauschend über die Hecke hinweg und landeten jenseits davon in einer Blumenwiese, die weiter vorwärts an den Waldrand stieß; langsam ließ Irene das Tier wieder in Trab und zuletzt in eine gemächliche Gangart verfallen. Ich vermochte nicht zu verhindern, daß ich am ganzen Leibe zitterte!
„Nun, was sagst du?“ war alles, was Irene dazu einfiel, indem ich mich noch immer ängstlich an ihre Gestalt klammerte.
„Du bist verrückt, Irene!“ sagte ich nur, indem wir langsam auf den Waldrand zuhielten, wo ein kristallklarer Bach über bunte Kiesel glitt, der vom Weiher des weiter rückwärts im Tal gelegenen Jagdhofes gegen das Dorf hinlief. Sie schlug eine helle Lache auf.
„Laß’ uns dort ein wenig ausruhen“, meinte sie, und erschrocken lockerte ich meinen Griff um ihren Leib, als ich bemerkte, wie ich die Reiterin, noch ganz im Banne des soeben bestandenen Abenteuers, noch immer fest umklammert hielt. Sie sprang vom Pferde und half mir aus dem Sattel. Dann setzten wir uns am Bachufer beide ins Gras hinein und tauchten unsere nackten Füße in die kühle Flut; Irene war barfuß, ich hatte mich meiner Schuhe entledigt. Unser Gespräch begann nun ernsthafter zu werden.
„Nun sind die Ferien ja schon fast wieder vorbei!“ hub Irene unvermittelt an und warf kleine Steinchen in das flache Ufer des sanft bespülten Kiesgrundes. Ich hatte meine Sprache offenbar noch nicht wiedergefunden.
„Ist es wahr“, so fing sie nun abermals an, „daß du jetzt im Herbst auf das Gymnasium in die Stadt kommst?“
„Ja, es ist wahr“, sagte ich und ließ den Kopf sinken. Nur das sanfte Gemurmel des Baches durchbrach die nachmittägliche Sommerstille.
„Und ... freust du dich schon darauf?“ frug Irene und schnippte einen Kiesel in das leicht aufspritzende Wasser.
„Ich weiß nicht“, gab ich zur Antwort. „Ich kenne ja niemanden dort ... und außerdem, die Stadt liegt sehr weit, man braucht über eine Stunde mit dem Fahrzeug, um hinzugelangen!“
„Bist du denn schon einmal dortgewesen ... auf der neuen Schule, meine ich?“ wollte Irene wissen.
„Ein einziges Mal nur“, antwortete ich, „mit dem Vater, da haben wir uns alles angesehen!“
„Schade, daß du unser Dorf nun verlassen wirst, Christoph“, sagte Irene mit einemmal. „Wir waren stets gute Freunde, nicht wahr? ‒ und ... du warst immer der beste Schüler unserer Klasse! Jetzt werde ich … jetzt werden wir wohl ohne dich zurechtkommen müssen!“
Ich erwiderte nichts darauf; mir war wahrhaft zum Heulen zumute!
„Nur Mut“, sagte sie jetzt, „du wirst dort gewiß bald neue Freunde finden! Außerdem wirst du dort viele Dinge hören, die wir hier in der Dorfschule nicht lernen, und später, wenn du einmal erwachsen bist und vieles gelernt hast, kannst du einmal ein reicher und berühmter Mann werden!“
Ich sah auf und blickte in Irenens Antlitz, das mich fröhlich anstrahlte. Ihre Zuversicht wirkte ansteckend; denn auf einmal dünkte mich mein Schicksal nicht mehr so schwer, als es mir gerade eben noch erschienen war. Wir saßen noch für ein Weilchen an dem allerliebsten Platze zusammen, und begierig sog ich jedes Wort in mich ein, das von Irenens roten Lippen strömte. Zuletzt sah das Mädchen wieder nach seinem in der Wiese grasenden Pferde und versprach, auf dem Rückweg keine Albernheiten mehr zu treiben, sondern uns auf dem Reitwege gemächlich wieder ins Dorf zurückzubringen. Wir saßen auf und machten uns in der hellen Nachmittagsonne auf den Weg. Noch ehe eine Wegbiegung den Blick auf das Gehöft und das Dorf eröffnete, hielt sie das Pferd an.
„Ich weiß nicht, ob wir uns noch einmal wiedersehen werden, ehe du fortgehst“, sagte sie nun. „Ich möchte dir deshalb etwas schenken ... zur Erinnerung an mich!“
Ich war freudig verwirrt, als sie sich auf dem Sattel nach mir umwandte. Sie lächelte und strahlte mich mit ihren tiefblauen Augensternen an. Dann neigte sie mir ihr hübsches Gesichtchen entgegen, und mit einemmal fühlte ich Irenens heiße Lippen auf den meinen, daß mir das Herz schier in Wonne versank. Trunken vor Seligkeit wußte ich nicht mehr, wie wir die letzte Strecke zum Gehöfte zurücklegten und ich mich mit schüchternen, aber innigen Worten von meiner jungen Freundin verabschiedete. Die nächsten Tage verbrachte ich gleichsam in einem Rauschzustand, doch sah ich Irene nicht wieder. Nach etwa zwei Wochen brachte mich mein Vater in die Stadt, und mein neues Leben begann. ‒



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