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LESEPROBE

Lord A. galt zu jener Zeit, in der unsere Geschichte spielt, als einer der vermögendsten und einflußreichsten Bewohner Londons; sein Stammbaum –wenn man den Berichten gewisser Leute Glauben schenken will – ließ sich in direkter Linie auf Wilhelm den Eroberer zurückverfolgen, und das wollte ja immerhin etwas heißen. War es nun dieser oder ähnlicher Umstände halber – jedenfalls war Lord A. in den damaligen, feinen Londoner Gesellschaften ein gern gesehener Gast, welcher sich ungeachtet seiner vielen Besitztümer eine gewisse, bürgerliche Bodenständigkeit bewahrt hatte – was man seinerzeit durchaus nicht von all seinen Standesgenossen behaupten konnte.
Nun pflegte der Lord einen sehr vielseitigen Umgang; die verschiedensten Geschäfte beriefen ihn bald von Hof zu Hof, von hier nach dort – und obgleich er sich in der glücklichen Lage befand, ein außerordentlich hübsches Eheweib und ein fast noch hübscheres Töchterchen sein Eigen zu nennen, konnte er es aus den zuletzt genannten Gründen doch nicht immer vermeiden, daß jene häufig alleine ihre gemeinsame Residenz im Stadtteil Westminster bewohnten. Zwar stand eine ausgewählte Dienerschaft jederzeit zu deren Verfügung; aber derselbe Umstand vermochte dennoch kaum verhindern, daß sich beide Frauen oftmals sehr einsam fühlen mußten.
Nun war die Fürstin außerdem eine sehr kluge Frau; nach längerem Hin und Her gelang es ihr, ihren Mann zum Kauf eines Schlosses zu bewegen, welches auf einige Wegstunden außerhalb von London in der Grafschaft Essex gelegen war. Auch verband die verständige Dame mit der nur Frauen eigenen List damit den Gedanken, ihren Gemahl in der stillen Abgeschiedenheit des Landlebens etwas mehr an die Familie zu fesseln. Genug, Lord A. ließ sich das besagte Schloß von einem gleichfalls in London ansässigen Vertrauensmann, den er in allerlei geschäftlichen Dingen stets zu berufen pflegte, zeigen, und da sich damit alles in bester Ordnung fand und es außerdem wohlfeil war, entschloß er sich zum Kauf. Nun knüpfte sich aber an denselben Ort eine etwas schauerliche Geschichte. Das Schloß nämlich hatte sich vor fast genau über einhundert Jahren im Besitz eines normannischen Freiherren befunden; jener sei damals auf ziemlich unheimliche Weise ums Leben gekommen. Jedenfalls hatte man den Unglücklichen angeblich eines Morgens mit weit aufgerissener Brust im Glockenstuhl eines Turmes im Schlosse aufgefunden. Seit jener Zeit habe sich kein Käufer mehr für das verwunschene Gebäude gefunden, und wenn auch von allen Seiten auf das lebhafteste versichert wurde, daß man keineswegs abergläubisch sei, so konnte sich aus diesen oder jenen Gründen doch niemand dazu entschließen, das heruntergekommene Gut zu erwerben.
Lord A. war ein durchaus aufgeklärter Mann; in London hatte er immerhin einmal Voltaire getroffen – eben zu jener Zeit, als dieser auf der Flucht vor dem Chevalier de Rohan (angeblich einer Weibergeschichte wegen) Frankreich vorübergehend verlassen mußte – und hatte dessen „Lettres philosophiques“ gelesen. Kurz und gut, Lord A. hielt wenig auf jene Geschichte, welche er als „Ammenmärchen“ und „Ausgeburt abergläubischer Gehirne“ bezeichnete; und je mehr ihm gewisse Leute davon abrieten, den Landsitz zu kaufen, desto mehr fühlte sich der Lord davon überzeugt, daß jenes Schloß eben das Rechte für einen Mann seiner Stellung sei. Er berief seinen Verwalter, das Schloß ward gekauft, und nachdem er dasselbe binnen weniger Wochen wieder vorzüglich instandzusetzen gewußt hatte, wartete er nur mehr darauf, sich bei passender Gelegenheit ebendort für einige Zeit einzuquartieren. Den beiden Frauen hatte er die Angelegenheit mit dem normannischen Baron in weiser Voraussicht verschwiegen – waren die Frauen seinem aufgeklärten Verstande doch von Natur aus als höchst ängstliche Wesen bekannt, welche bei jedem noch so geringen Anlaß gleich die ungeheuerlichsten Gedanken hegten. So befliß er sich denn der umsichtigsten Verschwiegenheit, verbot jedermann, in Gegenwart seiner Frau oder seiner Tochter der Geschichte irgend Erwähnung zu tun und sah der baldigen Abreise aus London mit den freudigsten Erwartungen entgegen.
An einem schönen Herbsttage kam die fürstliche Familie auf dem neuerworbenen Schlosse an. Als der Lord dasselbe so im heitersten Sonnenglanze vor ihm liegen sah, nickte er wie beifällig mit dem Kopfe und dachte mit einem selbstgefälligen Seitenblick auf Frau und Tochter bei sich: „Dummes Zeug, was da landauf, landab allenthalben zusammengeschwatzt wird! Das Schicksal konnte mir gar kein besseres Los bescheren, und nur gut, daß ich nicht dem Aberglauben meiner Landsleute verfallen bin!“ Gar bald hatte die Familie zusammen mit einigen Dienern und einer Muhme, welche die Erziehung des jungen Fräuleins besorgte, die neue Wohnung bezogen. Sogleich ging man daran, das Schloß gehörig unter Augenschein zu nehmen; und als man endlich darin übereingekommen war, daß alles sehr hübsch im Stande sei und der Lord sich noch einmal heimlich zu seiner vortrefflichen Wahl beglückwünscht hatte, ging man frohgelaunt zu Tisch und alsbald, von der Reise ermüdet, sogleich zu Bette.
Der nächste Tag fand den Lord in der allerbesten Laune; sogleich ließ er sich ein Pferd satteln und beschloß, das umliegende Land etwas näher zu erkunden; der Forst ringsum schien sehr wildreich und versprach eine gute Jagd, und bei nächster Gelegenheit beabsichtigte er, seine Freunde in London einmal zur Fuchsjagd einzuladen. Auch die Lady schien wohl geruht zu haben und begab sich in Anbetracht ebenjener Umstände wohlgelaunt zum Frühstückstisch. Alleine Fräulein Sheila, das zwölfjährige Töchterlein des Fürstenpaares, beklagte, eine unruhige Nacht gehabt zu haben. Die Mutter bemerkte, sie sei in der Tat etwas blaß, die neue Umgebung sei ihr wohl noch etwas ungewohnt, und manchmal brauche es damit eben, wie es ihr selbst wohl zuweilen ergangen wäre, seine Zeit. Gar bald aber hatte Fräulein Sheila alle Verdrießlichkeiten der vergangenen Nacht abgeschüttelt und vergnügte sich in dem Park, welcher mit einer wunderschönen Allee von alten Platanen in einer leichten Neigung zum Schlosse emporführte. Die Lady stand auf einem Söller und blickte mit heiterem Auge über die sie umgebende, schöne Landschaft hin. Die Tage schwanden dahin, das Fürstenpaar befand sich sehr wohl, dankte es dem Schicksal, daß es ihm zu diesem Glück verholfen habe und genoß die Ruhe des Landlebens sowie die Gewißheit, nun etwas mehr Zeit miteinander verbringen zu können, in vollen Zügen.
Alleine der Zustand Lady Sheilas schien sich nicht bessern zu wollen. Weiterhin klagte sie über unruhige Nächte, in denen sie kaum Schlaf finden wollte; und als ihre Mutter um derselben Ursache willen den Lord A. fragte, ob es ihm wohl rätlich erschiene, einen Arzt herbeiholen zu wollen, meinte jener, dergleichen sei wohl keineswegs nötig; das Kind sei in der Stadt nur allzu verweichlicht und ängstlich geworden, und sie müsse sich wohl erst an die neuen Eindrücke auf dem Lande gewöhnen. Es bestünde dessentwillen keinerlei Grund zur Besorgnis, er wolle indessen aber alles in seinen Kräften stehende dazutun, um dem Fräulein ihren Aufenthalt so angenehm als nur irgend möglich zu gestalten.
Eines Nachts ward die Muhme, die aus Gründen, welche ihre Stellung geboten, gleich in der Kammer neben dem Fräulein schlief, durch einen hellen Angstschrei geweckt. Nachdem sie, noch halb vom Schlafe benommen, bemerkt zu haben glaubte, jener Laut sei aus dem Schlafgemach des Fräuleins gedrungen, stieß sie die angrenzende Türe auf, um sich sogleich von ihrer Vermutung zu überzeugen. Und wirklich saß das Fräulein, allem Anscheine nach sehr aufgeregt, aufrecht in ihrem Bette und starrte mit angsterfüllten Augen zum Fenster hinaus, indem sie mit dem Arme aufgebracht nach draußen wies. Die Muhme, sich ihr besorgt nähernd, frug sogleich, weshalb sie denn nun gar so erschreckt sei, worauf jene anhub: „Meine liebe, gute Amy“, sprach sie hastig, noch immer am ganzen Leibe zitternd, „meine gute Amy, dort oben, bei dem Turme – jenem Fenster droben im Glockenstuhl – habe ich soeben ein unheimliches Licht gesehen; und dann habe ich ganz deutlich die Konturen einer Gestalt gesehen, welche mir zuzuwinken schien! Ich habe mich ganz schrecklich gefürchtet, und dann ... ja, dann muß ich wohl geschrien haben!“ Daraufhin brach sie plötzlich in ein krampfhaftes Schluchzen aus, und die Muhme, zum Turme emporblickend, versicherte sogleich, sie habe wohl ein arges Nachtgesicht gehabt und schloß die Weinende in ihre Arme. Zunächst wollte sich das Mädchen durchaus nicht trösten lassen und versicherte im Namen aller Heiligen, sie habe sich ganz gewiß nicht geirrt. Die Muhme aber fuhr unaufhörlich fort, die Ärmste zu trösten, versicherte, sie möge doch einmal zum Turm emporsehen und sich überzeugen, daß oben alles ganz und gar dunkel sei und sie ganz gewiß kein Licht oder gar irgendeinen Menschen dort werde bemerken können; und nachdem sich die Zitternde dessen mit eigenen Augen versichert hatte und die Muhme mit tröstlichen Worten fortfuhr und wieder einmal bestätigte, es gebe nun ein für allemal keine Geister und daß sie nun schon wohl ein großes Mädchen sei und sich solcherlei Fabeln für Damen ihres Alters nicht mehr geziemten, glaubte sie endlich selbst, nur ein böser Traum habe sie am Ende genarrt! Zuletzt bat das Mädchen die Amme noch zaghaft, sie möge ihre Eltern davon bloß nichts wissen lassen – diese möchten sie um solcher Ängstlichkeit willen sonst tüchtig ausschmälen. Nachdem sie das Fräulein solcherart beschwichtigt hatte, verließ die Amme das Zimmer, und schließlich konnten beide – und entgegen aller Erwartung sogar das Fräulein – wieder einschlafen.




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