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Mein teurer Freund,


da Du ja weißt, daß ich seit jeher ein inniger Verehrer der Natur und ihrer mannigfaltigen Schönheiten war, möchte ich diese Gelegenheit wahrnehmen, Dich an einer meiner Wanderungen, die ich gewöhnlich zu allen Jahreszeiten zu unternehmen pflege, teilhaben zu lassen – nicht nur, um uns am artigen Äußeren, wie es eine solche Unternehmung stets zu begleiten pflegt, zu ergötzen, sondern auch, um zu sehen, daß man auch bei derlei Anlässen, die von anderen zumeist nur um nichtiger Dinge halber gepflogen werden, allerlei nützliche Studien betreiben kann. Der Gelehrte nämlich geht keineswegs mit blinden Augen durch die Landschaft, welche er durchschreitet; vielmehr wird er ständig darum bemüht sein, allerlei Verknüpfungen und Verhältnisse herzustellen, die ihm jenes immanente, durch die Sinne erfahrbare Bild in einem transzendierten Bilde des Geistes gleichsam reflexiv nocheinmal abkonterfeien.

Sooft wir also nun die Ruhe am Busen der Natur aufsuchen, so erscheint es uns als durchaus notwendig, jene Plätze zu meiden, die von der Masse für gewöhnlich ihrer Schönheit wegen geliebt und geschätzt werden; stellen dieselben Orte doch – ungeachtet die meisten unter ihnen sich in der Tat eines außerordentlichen Reizes rühmen können – nichts weiter denn die Gemeinplätze des Pöbels vor, wo sich zahllose Betrachter nur am oberflächlichen Schein der Dinge zu ergötzen lieben und jene Stille und Ruhe, welche der verständige Bewunderer von einem derartigen Platze zu erwarten berechtigt ist, sowohl durch die Unzahl seiner Besucher als deren verständnisloses Gerede gestört wird. Auf diese Weise endlich verlieren die schönsten Flecken ihren natürlichen Reiz, denn an einem Orte, wo sich die große Menge verläuft, wird konsequenterweise auch ein infrastruktureller Eingriff und somit eine Beeinträchtigung der Unverfälschtheit derartiger Landstriche unvermeidlich sein. Ist das stereotype Gerede, das dem großen Haufen untrennbar verhaftet scheint, an sich schon ein Ärgernis, so wird dieser letztere Umstand noch verstärkt durch jenen unbeholfenen Versuch, den solche Menschen bisweilen unternehmen, Dingen, zu denen sie keinen Zugang haben, eine höhere Bedeutung verleihen zu wollen; das notwendige Resultat davon ist eine Hypostase, also meinetwegen eine Translokation der Transzendenz in die Immanenz, oder – quod idem est – eine Erniedrigung und Entweihung der Natur, seiner selbst und endlich von jenem Prinzip, aus dem diese wie jenes hervorgegangen ist!

Wollen wir jedoch nun wieder zu unserem philosophischen Wanderer zurückkehren, und wäre es auch nur, um aus seinem Munde zu vernehmen, daß jener, welcher einen wahrhaften Begriff von der Divinität der Natur hegt, diese auch mit keinem als nur mit seinesgleichen zu teilen und erleben wünscht; ist ihm letzteres nicht möglich, so mag er sich selbst genügen!

Die Natur ist wie ein offenes, sich nie zu Ende lesendes Lehrbuch; die alte, urewige Mutter sitzet daselbst auf ihrem Dozentenstuhl, um sich ihren Schülern, ihren Lieblingen, zu erschließen und sie zu unterweisen, um ihnen die Geheimnisse und Tiefen, die in ihrem Schoße ruhen, auf tätige Weise darzutun. So wollen wir denn auch nicht säumen – sobald wir uns auf einem blumengeschmückten Anger wiederfinden – uns nach den mannigfaltigen, hübschen Gewächsen, die der Erde entsprossen, umzusehen; auf diese Art und Weise lernen wir, die verschiedenen Gräser zu unterscheiden, die Schönheiten und Eigenarten der Pflanzen im allgemeinen kennen und bewundern; dem Gelehrteren mag es sogar vorbehalten bleiben, dieselben nach dem Linnéschen Systeme [1] mit der ihnen eignenden, botanischen Nomenklatur zu bezeichnen. Dasselbe mag für das mannigfaltige Getier gelten, das sich zu Luft und Erde, aber auch zu Wasser aufhält. So lernen wir, die Lerche von der Nachtigall zu unterscheiden; daß diese alauda arvensis, jene luscinia megarhynchos genannt wird; wir bemerken auf einmal, daß die Wespe, obzwar sie einen Stachel besitzt, ein ungewöhnlich possierliches Tierchen ist, das sich völlig arglos auf einem unserer Finger die Flügel putzt. Ferner bemerken wir, daß der Gelbrand(käfer) im Tümpel eines nahen, glasklaren Baches zwar nicht eben ein sehr ansehnliches Tier, aber dafür ein desto geschickterer Schwimmer ist, der sich auf faszinierende Weise in seinem Elemente fortzubewegen weiß. Und stoßen wir nun gar im Walde, am Rande des Weges, durch Zufall auf einen Ameisenbau, so sehen wir die emsigen Gesellen eifrig Blätter – zu zehen und mehr – , aber auch vom Baume abgefallene Nadeln ebenso wie die Larven ihres Nachwuchses in stiller Geschäftigkeit zur Stelle schaffen. Und wie munter sich doch das Leben in einem scheinbar so ruhigen Forste regt! Zwar umgibt tiefe Stille den einsamen Wanderer – doch horch! ganz in der Nähe können wir nun in aller Deutlichkeit das schnelle Hämmern eines Spechtes vernehmen, und flink und behende huscht das Eichkätzchen vor unseren Augen den rauhen Stamm einer Fichte hinan. Wir lernen, die herzförmigen Blätter der Linde zu erkennen; wie die Zapfen der Fichte im Gegensatz zu jenen der Tanne an den Zweigen gleichsam hängen und als Ganzes abgeworfen werden; wir gewahren plötzlich, daß ein petrifiziertes Ammonshorn sich in corpore in dem Kalkgestein befindet und fragen uns bei dieser Gelegenheit, wie denn nun dasselbe dorthin konnte gelangen; so gelangen wir endlich zu jener Auffassung der Neptunisten, nachdem sich alles Leben aus dem Wasser entwickelt haben soll. Und mußte sich vor Urzeiten nicht wirklich ein Meer dort befunden haben? Und sind nicht auch jene bizarren Kalkgipfel, wie sie da so unnahbar und voll der wunderbaren Majestät über die Wälder hereinblicken, einst aus mächtigen Sedimentschichten, also aus dem Wasser, entstanden? So wandern unsere Gedanken beständig fort, und wir wundern uns über den Toren, der bei einem solchen Anblick nicht allsogleich in die nämlichen Betrachtungen versinkt. So hast ja nicht zuletzt Du selbst mir, Bester, einmal berichtet, zwei ältlichen Damen sei gelegentlich der Betrachtung zweier Thunfische in einem Aquarium nichts Klügeres beigefallen als jene peinliche Bemerkung: „Die sehen aber lecker aus!“ Wahrlich, Freund, eine Schande ist es, wie wenig Sinnreiches unseren Mitmenschen bisweilen im Angesichte unserer wundervollen und göttlichen Natur beifällt; und wenigstens sollte uns die Erfahrung eines langen Lebens gelehrt haben, derlei Betrachtungen mit etwas mehr Pietät und Demut anzustellen, denn umso kläglicher erscheinen sie uns aus dem Munde von Greisen mit dem geistigen Substrat von Klippschülern.

Doch fahren wir indes mit unseren Betrachtungen fort. Ferne von des Menschen kleinlichen Geschäften umfächelt uns auf den Gipfeln der Gebirge mit einemmal kühlende Gletscherluft. Und in der Tat, in einem bläulichen Lichte schimmert das ewige Eis in der glänzenden Sonne, und schäumend stürzen die Gießbäche, die aus ihm hervortreten, zu Tal. Im Innern des Berges mit all seinen Kammern und Höhlen – Orte, die noch nie eines Menschen Fuß jemals betreten, noch nie ein Sonnenstrahl jemals mit seinem wundertätigen Lichte durchflutet – folgen sie getreulich dem ihnen vorbestimmten Lauf und treten im grünen Tale, als sprudelnder, kristallklarer Quell wieder ans Tageslicht. Wieviel mehr wert ist doch ein Trunk klaren, lauteren Wassers gegen einen ganzen Zentner Goldes. Und ach, wie wenige nur begreifen dies! Nur wenn sie viel schöne Worte davon machen, dann reden sie über all jene Dinge, wie der Fuchs von den sauren Trauben zu erzählen pflegt, und schwatzen so allerlei neunmalkluges Zeug zusammen, das sie dennoch nie begreifen werden. Und in den Lüften sehen wir daselbst vielleicht einen Steinadler kreisen – jenes Symbol der Freiheit und der Majestät, das zahllose fürstliche Banner und Wappen zierte und mit dem sich zu schmücken die wenigsten tatsächlich ein Recht haben – denn der Großteil unserer Menschen gleicht allenfalls Geiern und lechzen, gerade wie er, nach Aas und Kadavern. Ebenso wenig, wie der Mensch imstande ist, nach den Prinzipien der Tugend zu leben, so wenig ist er imstande, das principum naturale zu begreifen. In diesem Zusammenhange werden all die Laster und Schlechtigkeiten, deren die Menschen gar viele verbrechen, sehr gerne als mit dem Worte „natürlich“ bezeichnet. Auch Schwächen und Mängel zu besitzen sei durchaus „natürlich“. Wir hingegen wollen kühnlich behaupten, daß der Sinn für das Schöne und Gute im Menschen nicht minder „natürlich“ sei denn das letztere, ja recht eigentlich das einzig wahrhaft Natürliche im Menschen ist. Alles im Mikrokosmos strebt aus einem natürlichen Agens dem zu, wozu die Natur es prädestiniert hat. Der Biber baut seine Dämme, der Maulwurf lockert das Erdreich und der Fuchs säubert den Wald; aber auch scheinbar unwesentlichere Bewohner im Tierreiche sowie die vielen Pflanzen haben sämtlich eine ihnen bestimmte Aufgabe zu erfüllen – selbst die kleinsten und unscheinbarsten unter ihnen! Unsere Bestimmung – jene des Menschen also – kann daher mitnichten lauten, schwächlich und lasterhaft zu sein! Edel sei der Mensch, hilfreich und gut – mit diesem Worte aus dem Munde eines deutschen Dichters [2] ist die ganze natürliche Bestimmung des Menschen dargetan. Und wenn wir uns denn beständig auf unsere „Natur“ berufen wollen – nun, so müssen wir freilich errötend eingestehen, daß wir, obwohl die einzigen, die mit Vernunft begabt, auch die einzigen sind, die nicht in der Lage sind, jenen natürlichen Gesetzen zu entsprechen, zu denen die Vorhersehung die Natur – also auch uns – ausersehen hat! Wir sehen also wohl, daß die allgütige Natur mit ihren mannigfaltigsten Erscheinungen auf uns in einem Grade zu wirken vermag, daß wir zu einem Studium ihrer und unser selbst angeregt werden sollten. Denn einerlei Erkenntnis bleibt ja allemal zurück: Natur bleibt Natur, und Kunst bleibt Kunst! In der Natur ist alles göttlich, da einer göttlichen Hand entsprungen! Allein in der Kunst kann nur das göttlich sein, das aus einem göttlichen Geiste quillt; alles übrige bleibt das Werk törichter Scharlatane, die glauben, alle Welt täuschen und irreführen zu können! Doch wer das Studium der Natur mit dem nötigen Ernste und Fleiß betreibt, der wird auch hier zu einer rechten Beurteilung der Dinge gelangen und zu der rechten Art und Weise vordringen, die Natur – und mit ihr ihren Schöpfer – zu verehren und zu verstehen!

 






[1] Carl von Linné oder Linnaeus (1707-1778) war einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler der europäischen Aufklärungszeit. Nach einem Studium der Medizin und der Naturwissenschaften unternahm er ausgedehnte Forschungsreisen und bekleidete eine Anzahl gewichtiger Professuren an den bedeutendsten schwedischen Universitäten und Akademien jener Zeit. Er erarbeitete die Grundlagen der botanischen Fachsprache und führte in die sogenannte binäre Nomenklatur ein, indem er jeder Pflanzen- und Tierart eine lateinische Doppelbezeichnung, bestehend aus einem Gattungs- und einem Artnamen, gab.

[2] Gemeint ist J. W. von Goethe.



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