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Indem Du, geschätzter Freund, mich anhieltest, einige Betrachtungen über die Feigheit im Leben des Menschen anzustellen, denke ich freilich selbst, daß jene ein Gegenstand, welcher der näheren Behandlung als durchaus würdig erscheint; ist die Feigheit des Individuums doch zuletzt wohl ein Umstand, der, öfter als uns das nur lieb sein kann, veranlaßt, daß sich das Menschengeschlecht – wider besseres Wissen – seiner Pflicht als vernünftig denkende Wesen entzieht.
Schon der aristotelische Auftrag des „sapere aude“ weist auf die nämliche Problematik hin; es ist wohl unwiderleglich, wenn wir behaupten, daß beinahe jedes Individuum, und sei es auch nur instinktiv, einen Begriff dessen hegt, was die Pflicht von uns heischt. Wenn diese Anlage bei vielen derselben nicht zur Zeitigung gelangt, so ist es einerseits deshalb, weil diese außerstande sind, sich aus jenem nur „leidenden“ Zustande des reinen Physiokratismus zu lösen. In diesem letztern Fall freilich ist allerdings weniger von Feigheit als vielmehr von einem reinen Fehlen der freien Willenskraft die Rede; denn die letztere setzt zunächst einmal die Fähigkeit voraus, aus sich gleichsam hervorzutreten und der Reflexion vermögend zu sein. Der freie Wille kann also nur zwischen unserer Neigung und unseren erkannten Pflichten wirksam werden. Wie gelangt nun in diesem Zusammenhange die Feigheit zur Wirkung?
Hat ein bestimmter Mensch nun einen bestimmten Zustand erreicht, in dem er fähig ist, zwischen Neigung und Pflicht zu entscheiden, wirkt dazwischen der freie Wille. Verhält es sich nun so, daß die Neigung stärker ist als die Pflicht, so wird er die letztere nur aus reiner Schwäche des Willens verabsäumen und dergestalt seinem eingeborenen Naturtriebe indulgieren. In diesem Falle kommt es lediglich zu einem Spannungsverhältnis zwischen physischem Trieb und den Vernunftkräften, und alleine die Kraft des dazwischen frei wirkenden Willens wird entscheiden, ob wir uns diesem oder jenen zuwenden werden.
Anders verhält es sich, wenn das Pflichtgefühl die Neigung übersteigt. Bei moralischen Naturen – also bei all jenen, wo man aus dem „bloß ästhetischen“ Zustande (wobei wir mit „ästhetisch“ jenen Zustand begreifen, bei welchem der Mensch den Naturkräften schon nach bestimmten Gesetzen der Ästhetik folgt) bereits in den vernünftigen übergegangen ist – wird dies zumeist die Pflichterfüllung im Gefolge haben, da ein solcher durchaus als vernünftiges Wesen, also gemäß dem Vernunftgesetze, handelt. Bei moralisch noch weniger gefestigten Naturen allerdings – sowie bei jenen, welche zwar ästhetische, aber noch keineswegs moralische Charaktere sind – tritt nun ein Umstand in Kraft, der jener freien Erfüllung der Pflicht höchst hinderlich ist – die Feigheit.
Diese schiebt sich nun gleichsam als eine passive Kraft zwischen Willen und Handlung – passiv deshalb, weil sie nicht eigentlich tätig wirkt sondern rein unterläßt. Die Erfüllung von Pflichten setzt aber auch Verantwortungsbewußtsein voraus (Verantwortung gegenüber sich selbst – Verantwortung gegenüber anderen); jemand, der tätiges Individuum ist, muß also konsequenterweise bereit sein, nötigenfalls Verantwortung für sein Handeln übernehmen zu wollen, wo er sich aufgrund seines freien Willens zur Tat entschließt. Außerdem geht die Erfüllung von Pflichten nicht eben selten auf Unkosten unserer Neigung, oder sehr unserem nüchternen Verstande zuwider; die natürliche Reaktion des Individuums auf die eben erwähnten Umstände sind zunächst Bedenken, dann nicht selten Furcht! Fast nie vermögen wir in Hinblick auf Neigung und Pflicht zu harmonieren, fast immer gerät die erste mit der letztern in Widerstreit. Wenn aber nun die Neigung der Vernunft unterliegt, so kommt es jetzt zum schwierigsten aller Schritte – jenem zwischen der Handlung und der Tat. Wenn wir als Handlung nur den Entschluß des freien Willens zur Tat verstehen, so begreifen wir ihre mechanische Ausführung als Tat. Es kann nun aber sogar vorkommen, daß sich jene passive Kraft zwischen Handlung und Tat schiebt; nicht selten sehen wir Menschen, welche durch eine seltsame Anspannung ihrer Glieder, durch die Anstalt zu irgendeiner Bewegung verraten, sich an die Ausführung einer vorgefaßten Handlung zu machen! Im allerletzten Augenblick aber wird nun eine Macht wirksam, welche sie an diesem letzten und entscheidendsten aller Schritte hindert – die Feigheit! Kraftlos sehen wir den bereits zur Tätigkeit gespannten Tonus erschlaffen, ängstlich sehen wir den bereits zum Entschluß gelangten Willen doch noch zurückschrecken – die Feigheit hat gesiegt! Wir könnten die Feigheit demnach also durchaus als das Mittel zum Zwecke der Autoprotektion verstehen. Der Begriff der Feigheit allerdings wird oft fälschlicherweise jenem der Angst untergeschoben
[1]die Angst allerdings entspringt immer nur der reinen Natur des Menschen, ohne Reflexion, jene entzündet sich im unmittelbaren Augenblicke der Gefahr oder der Bedrohung und setzt keine Tätigkeit des freien Willens voraus. Es muß also zunächst Angst vorhanden sein, ehe Feigheit entstehen kann! Diese wiederum kann nur durch bestimmte Reflexion – also die Reflexion auf ein Ich – zur Auslösung gelangen. Sobald die Reflexion frei – also auf ein Nicht-Ich erfolgt, ist es auch keine Feigheit mehr; denn das wesentlich Kennzeichen der Feigheit ist ja die selbstische Furcht und keineswegs die Furcht, welche sich auf ein Objekt bezieht. Als feige nämlich gilt nicht der, welcher Angst hat, sondern jener, der seine Angst nicht zu bemeistern weiß!

 

[1] Es gilt diesbezüglich notwendig festzustellen, daß dem Begriff der Feigheit unbedingt die Verhinderung eines moralischen Zweckes zum Grunde liegen muß. Es ist daher verkehrt, von Feigheit zu sprechen, wenn es sich um eine Reaktion im Affekte, also um eine bloße Tätigkeit des Instinktes, handelt. Ebenso ist der Begriff Feigheit falsch angewandt, woferne es sich nur um Zwecke handelt, die keine moralischen sind und hier lediglich als Selbstzweck zur Überwindung unserer Ängste dienen mögen; jene können aber insoferne von Bedeutung sein, als sie uns lernen helfen können, unser Selbsteinschätzungsvermögen zu befördern und unterliegen weit eher dem gesunden Verstandesbegriff als jenem der moralischen Vernunft.
 



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