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LESEPROBE

Olivier Vermont war lange nicht mehr in der Heimat gewesen; er hatte manches Jahr auf der Universität in Paris zugebracht und nur gelegentlich in den Ferien, wenn, wie er Freunden gegenüber zuweilen wenig pietätvoll bemerkte, er nichts Besseres zu schaffen hatte, für kurze Tage die Stätte seiner Kindheit besucht, um seine Verwandten zu sehen. Die übrige Zeit hatte er sich um jene so gut als gar nicht bekümmert, obwohl er häufige Briefe erhielt, für welche er sich indessen kaum jemals die Zeit nahm, dieselben zu beantworten, und das umso eher, als sein Vater vor einigen Jahren bei einem Jagdunfall plötzlich verstorben war; mit dessen Tode schien er sich gleichsam jener höheren Pflicht überhoben zu sehen, noch eine Art von innigerem Umgang mit der Familie zu pflegen.
Nun war er mit der Universität zu Ende gekommen und sah sich als junger Baccalaureus und angehender Rechtsgelehrter in eine durchaus gewichtige Position versetzt – wenigstens seiner eigenen Meinung nach; und da er vor kurzem seine Stadtwohnung, welche ihm die finanziellen Zuwendungen seines Oheims, der seit dem Tode des Vaters die Vormundschaft über den jungen Olivier übte, zu bewohnen gestattete, aufgegeben hatte, wähnte er, es wäre nun an der Zeit, auf das Schloß seiner Familie in die Bretagne zurückzukehren und dort nach dem Rechten zu sehen, bis er seine Verhältnisse geordnet hätte und, wie er hoffte, durch die Vermittelung von einigen Gönnern in der Hauptstadt zu einem einträglichen Amte gekommen wäre! Unterdessen aber dünkte ihn ein Besuch bei seiner Familie als das geeignetste Mittel, die Zeit bis dahin zu überdauern.
An einem regnerischen Nachmittage fuhr Olivier mit einer Kutsche, welche der Oheim auf seines Neffen Bescheid nach St. Malo geschickt hatte, die stattliche Allee von mächtigen, alten Rüstern entlang, an deren Ende sich das altertümliche Schloß der Baronéts von Vermont erhob. Es stand dieses auf einer Anhöhe unfern dem Meere, und wenn man von seinen Zinnen und Türmen blickte, konnte man an schönen Tagen in der Ferne die Klippen des Meeres sehen und die Brandung rauschen hören. Oliviers Gedanken freilich waren ferne von derlei romantischen Betrachtungen: als ein fortschrittlicher Geist seines Landes, der in der Hauptstadt den Umgang mit der höheren Gesellschaft kennengelernt hatte und der sich selbst gerne mit jenem glänzenden Begriffe eines Kosmopoliten schmeichelte, schien er zuweilen mit einer Art von überlegener Geringschätzung auf seine altväterische Familie herabzusehen, deren streng monarchischer und aristokratischer Gesinnung wegen er sich schämen zu müssen glaubte; überhaupt sah er in dem revolutionären Paris gar viele Dinge als längst überholt und veraltet an – Dinge, die ihm in den Tagen seiner Kindheit noch vertraut gewesen, und je mehr er in jene moderne Gesinnungsart, die damals vorzüglich an den Universitäten ihre wildesten Schößlinge trieb, hineingeriet, einen desto minderen Begriff mußte er notwendig von den altadeligen Verhältnissen seiner Familie hegen; genug, jedenfalls trug die Erwiderung jener herzlichen Begrüßung, welche dem soeben heimgekehrten, jungen Baron nun von seiner Familie wie dem zahlreichen Hausgesinde in gleicher Weise zuteil ward, mehr den Anstrich gnädiger Kondeszenz als ungekünstelter Leutseligkeit, und sogar seine liebliche Schwester Diane, die ihm während ihrer gemeinsamen Kinderjahre stets eine liebevolle Gefährtin gewesen, würdigte er vorderhand nur eines kurzen Blickes.
Nachdem das Bewillkommnungszeremoniell durch den jungen Baron in höchst distinguierter Weise abgetan worden, zog sich derselbe sogleich in sein Gemach zurück, das sich in den langen Jahren seiner Abwesenheit kaum verändert hatte; er fühlte sich durch seinen Anblick wie mit einemmal beinahe in seine frühen Knabenjahre zurückversetzt, aber noch ehe ihn jenes heimelige Gefühl wohliger Sentimentalität beschleichen konnte, das uns bei derlei Gelegenheiten manchmal zu ergreifen pflegt, gebot er sich kategorisch Einhalt und entschied im Stillen, den ganzen altmodischen Plunder bei passender Gelegenheit entfernen zu lassen und an seiner statt Möbel im neuen Stil anzuschaffen! Überhaupt gefiel er sich sehr bei dem Gedanken, wie er, wenn das Schloß als Erbe erst einmal an ihn gefallen wäre – denn anders konnte und würde es wohl kaum kommen – damit beginnen wolle, allerhand Neuerungen einzuführen: denn nach der alten Aristokratenwirtschaft fortzufahren stand ihm keineswegs der Sinn!
Indem er noch bei den nämlichen Betrachtungen verweilte, pochte es plötzlich an der Tür, und als er einzutreten gebot, flog die Schwester, einem bunten Schmetterling gleich, wie ein Wirbelwind zur Tür herein und hing im nächsten Augenblicke auch schon an seinem Halse! Er hatte alle Mühe, sich von ihren heftigen Liebkosungen zu befreien, und als er ihr in der Kammer endlich frei gegenüberstand, schien sie mit lächelndem Wohlwollen in seinen Zügen gleichsam zu forschen.
„Ich bin höchst erfreut“, begann sie, „daß du nach so langer Zeit nun endlich wieder zu uns nach Vermont gekommen bist, liebes Bruderherz! Du wirst doch diesmal für länger bleiben, nicht wahr?“
„Wir werden sehen!“, versetzte Olivier nüchtern. „Ich habe nun zwar all meine Examen abgeschlossen und die Universität mit leidlichem Erfolge hinter mich gebracht; doch wird nun alles davon abhängen, wie schnell die Sache sich machen wird und ich eine geeignete Position erhalte, die meinen Ansprüchen genügen wird!“
„Du willst also wieder nach Paris zurückkehren?“, frug die Schwester betroffen.
„Ich habe keine andere Wahl“, versetzte Olivier, „denn nur dort sehe ich eine wahrhafte Chance, in meinem erwählten Fache vorwärtszukommen!“
Ein Schatten glitt über das rosige Gesichtchen Dianens.
„Und ich“, sagte sie mit gesenktem Kopfe, „hatte mich so bei dem Gedanken ergötzt, wir könnten wenigstens diesen Sommer wieder einmal gemeinsam über Land fahren!“
Obwohl Olivier in der Hauptstadt genugsam gelernt hatte, übermäßige Äußerungen des Gefühls als romantische Reverien zu verlachen und mit Verachtung zu bestrafen, rührte ihn der holde Anblick der enttäuschten Schwester doch ans Herz. Mit zärtlicher Geste schlang er also den Arm um sie und zwang sie sanft auf einen bereitstehenden Lehnstuhl nieder.
„Siehe, Diane“, versetzte er nun in einem fast vertraulichen Tonfall, „ich weiß ja noch gar nicht, wie schnell sich die ganze Sache machen wird! Ich habe, wie du wohl einsehen wirst, meine teuersten Jahre nicht an die Universität verwandt, nur um dann wieder unverrichteter Dinge in unser Schloß aufs Land zurückzukehren und nichts aus mir zu machen! Glaube mir, ich habe viele Freunde in Paris, auf deren Hilfe und Unterstützung ich jederzeit rechnen kann, und wenn alles nach Plan geht, so kann ich noch in diesem Jahre eine Stellung antreten, die mich in den Stand setzen wird, in Ehren davon zu leben!“
„Das will ich dir ja gerne glauben, Olivier“, versetzte Diane, „doch was wird dann aus Vermont und unserer Familie, wenn du beständig in Paris sein wirst?“
„So weit denke ich doch noch gar nicht, Schwesterherz“, entgegnete der junge Baron lächelnd. „Sieh, unser Oheim ist ein rüstiger Mann in seinen besten Jahren, und auch unsere liebe Mutter, wie du weißt, sieht noch zu allen Dingen und steht mit wackerem Sinne unserer Hausgemeinschaft vor! und siehe, ist doch sogar unsere Großmutter noch am Leben! Unsere Familie ist bedeutend genug, um die Verwaltung auf Schloß Vermont zu besorgen, und wenn, so Gott will, eines Tages die Reihe an mich kommt, unseren Besitz zu übernehmen, nun, dann will ich schon alles Nötige tun, damit auch weiterhin alles seinen rechten Gang geht! Du vertraust mir doch?“
„Ich vertraue dir, Olivier“, sagte Diane, „doch will ich aufrichtig mit dir sein! Manchesmal, in jener kurzen Zeit, die du bisweilen in den Ferien hier auf Vermont zubrachtest, gewann ich den Eindruck, als seiest du nicht mehr der Alte, der du warst, noch ehe du nach Paris gegangen bist! Oftmals in jenen Tagen machtest du Bemerkungen, welche dir selbst gar nicht bewußt schienen und von denen du doch wissen mußtest, daß sie unsere Familie kränken würden, und gar oft dachte ich, es sei dies jene moderne Gesinnungsart, von der man sagen hört, daß sie nun in Paris ganz und gar Mode geworden wäre! Auch hatte ich dir gar häufige Briefe zugesandt, weil ich sonst keine andere Möglichkeit sah, von deinem Befinden zu vernehmen; und da ich keine Antwort erhielt, wähnte ich bereits, sie wären irgendwo unter Weges verlorengegangen!“
„Ach, es hat dies nicht gar viel zu bedeuten“, versetzte Olivier, seine Verlegenheit gewandt verbergend, in die ihn die unbefangenen Worte seiner Schwester unwillkürlich versetzt hatten; „ich bitte dich, liebes Schwesterherz, du möchtest jene Unarten auf Rechnung der Universität setzen, wo man nun freilich stets allerhand Ohrenbläser um sich hat und sich dann wohl auch verschiedene Redensarten zur Gewohnheit macht, welche man gedankenlos vor sich hinsagt, ohne sich nun etwas Arges dabei zu denken! Was nun deine Briefe betrifft, liebste Diane, so hatte ich mir freilich oft genug aufrichtiger Weise vorgesetzt, sie zu beantworten; du kannst dir gewiß vorstellen, daß ich während all jener Zeit einen ganzen Haufen Briefe empfing, angesichts derer es mir neben meinen Studien unmöglich gewesen wäre, sie alle im einzelnen zu beantworten: und so habe ich es denn bei gelegentlichen Antwortschreiben belassen, um wenigstens meine allernächsten Anverwandten nicht im Unklaren zu lassen!“
„Deine Ausflüchte jedenfalls sind um nichts besser geworden, Bruderherz!“, versetzte Diane, indem sie schelmisch zu ihrem älteren Bruder aufsah.
„Aber nun genug von alledem“, fuhr sie nun, etwas lebhafter werdend, fort, „mir wäre es sehr lieb, wenn wir die Zeit deines Aufenthaltes wieder dazu verwenden könnten, die eine oder andere Landpartie zu machen, ganz im alten Stil, so wie früher; du besinnst dich gewiß noch darauf, wie wir als Kinder mit Vater und Oheim Louis und der ganzen übrigen Gesellschaft die Küste entlanggefahren sind, bis wir zuletzt vor den erhabenen Felsen von Mont-St.-Michel standen!? Ach, mein lieber Olivier, das waren schöne und heitere Tage und du mir so überaus wert und teuer, und wohl verlangt es mich, wieder einige Fahrten nach der alten Mode zu tun!“
„Nun“, versetzte der junge Baron mit einem warmen Blick auf die begeisterte Schwester, „ich gelobe feierlich, daß ich alles in meinen Kräften Stehende tun will, dir in deinen Absichten behilflich zu sein! Wahrhaft, du hast recht, dies waren heitere Tage, und wohl mag sich die eine oder andere Gelegenheit zu einer Ausfahrt ergeben!“
Er strich der Schwester mit der Hand über die dunklen Locken, welche sich nun erhoben hatte und sanft des Bruders Hände erfaßte.
„Olivier“, versetzte sie nun, indem sie ihm ernsthaft in die Augen sah, „ich bitte dich, werde wieder der Alte! Ich gestehe es, ich habe unbeschreibliche Angst, dich eines Tages ganz an Paris zu verlieren!“
Der junge Baron war allem Anscheine nach nicht wenig verwirrt, da die Schwester ihm dies Bekenntnis nun so ganz und gar unbefangen offenbarte; es schien, als habe all seine künstlich aufgewandte Beredsamkeit es nicht vermocht, ihren natürlichen Instinkt über die bezwingende Tatsache seines Sinneswandels hinwegzutäuschen.
„Da sei nur einmal ganz und gar beruhigt“, meinte er zuletzt, „denn wie ich bereits bemerkt habe, liegen manche Dinge ja noch durchaus im Ungewissen, und wohl kommt es zuweilen anders, als man sich dergleichen denken mag! Doch hab’ nur ein klein wenig Vertrauen in mich, liebe Diane, ich werde nun ja doch wohl aller Voraussicht nach einige Wochen hier auf Vermont verweilen, und dann magst du ja selbst sehen, ob noch Hoffnung vorhanden ist, aus einem halben Revolutionären wieder einen ganzen Aristokraten zu machen!“
Er lachte, und auch die Schwester schien es fürs Erste zufrieden. Sie empfahl sich mit der Bemerkung, der Oheim habe als Zeichen seines besonderen Wohlwollens abends im Familiensaal ein Souper anbefohlen, um ihn, des Hauses Sohn, standesgemäß zu bewillkommnen; und obwohl er jene Art von Förmlichkeiten bei seinen Freunden in Paris gewöhnlich als aristokratischen Unfug verlachte, nickte er seiner Schwester bei dieser Gelegenheit freundlich zu und versprach sein pünktliches Erscheinen.
Als er wenige Stunden später in den großen Familiensaal trat ...




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