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Wenn wir einen genauen Blick auf die Dichter Österreichs werfen, stellen wir fest, daß herausragende Persönlichkeiten in dem Sinne, wie es etwa Mozart und Haydn als Komponisten waren, fehlen; und wie es unbestritten ist, daß Goethe und Schiller die beiden Nationaldichter der Deutschen und Shakespeare der Nationaldichter der Briten ist, weil sie unter ihresgleichen eben jenen seltenen Ruf behaupten, das Höchste in ihrer Kunst geleistet zu haben, so gewiß läßt sich für Österreich kein einzelner Dichter finden, der einen solch hervorragenden Anspruch ohne Not legitimieren könnte!
Die Zahl an bedeutenden österreichischen Dichtern ist gleichwohl groß: Franz Grillparzer, Ferdinand Raimund und Johann Nepomuk Nestroy haben Unvergängliches für die deutschsprachige Bühne geschaffen; Ähnliches gilt für Hugo von Hofmannsthal und Ludwig Anzengruber, welche allerdings nicht allein als Dramatiker in Erscheinung traten. Rainer Maria Rilke hat Vortreffliches auf dem Gebiet der Lyrik, Arthur Schnitzler, Peter Rosegger, Franz Kafka und Adalbert Stifter auf dem Gebiet der Novellistik und Erzählkunst geleistet, und in Marie von Ebner-Eschenbach verehren wir eine der bedeutendsten Erzählerinnen des gesamten deutschen Sprachraumes. Als Repräsentanten der neueren Zeit seien Georg Trakl, Joseph Roth und der unvergleichliche Stefan Zweig erwähnt; eine erschöpfende Aufzählung ist an dieser Stelle wohl ohnehin kaum möglich, und obwohl es auch unter den Nachgeborenen unzweifelhaft manch einen Autor gibt, dem wir gerne ein gewisses Maß an Talent zugestehen, so wird doch spätestens ab der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts bei fast allen sogenannten Schriftstellern jenes unselige Bestreben fühlbar, welches nicht mehr dem höchsten Ideal der Kunst dienen, sondern sich vorzugsweise durch Stilbruch, Provokation und oberflächliche Geschwätzigkeit hervortun will; näheren Ausführungen dazu sehen wir uns deshalb billig überhoben!
Blieb der Name Ferdinand von Saars bisher noch unerwähnt, so hat dies seinen guten Grund: zu Unrecht nämlich, wie wir meinen, steht er an allgemeiner Bekanntheit hinter den Vorgenannten zurück; denn sind jene dem Ohr selbst des literarisch Ungebildeten vielfach ein Begriff, so ist dieser sogar unter Kennern zuweilen unbekannt. Mancherlei Mühe schon mag es bereitet haben, auf das Verdienst dieses vortrefflichen Mannes hinzuweisen, welcher der Dichtkunst Österreichs in solch unschätzbarem Maße Vorschub geleistet; und nicht zum wenigsten war es den Umständen der Zeit geschuldet, daß er in seiner universellen Bedeutung zumeist verkannt wurde und nun in einem ganz und gar bedeutungsverkleinernden Sinne als „Wiener Poet“ ein Schattendasein fristet; und da wir es überdies als eine heilige Pflicht der Nachgeborenen erachten, jene zu ehren, denen Ehre gebührt, wollen wir nun sein Licht, das so lange unter dem Scheffel gestanden, auf den Leuchter stellen, damit unser Dichter, wenngleich spät, seiner verdienten Würdigung im vollsten Umfange teilhaftig werde!
Mit dem Leben unseres Dichters wollen wir uns hier nur insoweit beschäftigen, als dergleichen für unseren Zweck nötig erscheint, der weit mehr als die Person sein Werk zum Gegenstande hat: 1833 zu Wien geboren, wächst der Sproß einer geadelten Beamtenfamilie unter ärmlichen Verhältnissen bei seiner Mutter auf; der Vater verstirbt bereits ein Jahr nach der Geburt des Sohnes. Nach dem Besuch des Schottengymnasiums wird er durch die Verhältnisse bestimmt, eine Laufbahn als Offizier in kaiserlichen Diensten einzuschlagen. Genugsam bekannt sind die mannigfachen Unbilden, die er während der insgesamt zwölf Jahre seiner Leutnantszeit zu erdulden hatte; und da er bereits in frühen Jahren den Beruf zum Dichter in sich fühlt, erscheint es nur folgerichtig, wenn er den ungeliebten Dienst zuletzt quittiert und beschließt, sein Glück fortan als Dichter zu versuchen!
Schon während seiner Militärzeit hatte er regelmäßig Arreste und Gefängnisstrafen zu verbüßen, da seine finanzielle Lage eine überaus bedenkliche war und er solchermaßen mehrfach in die Fänge von Gläubigern gerät, die ihn von allen Seiten bedrängen. Obwohl er unter diesen zweifellos höchst bedrückenden Lebensumständen sehr zu leiden hatte, benutzt er die Zeit seiner Haftstrafen, sich seinem poetischen Schaffen zu widmen. In jener Zeit war er des Öfteren auf finanzielle Zuwendungen der ihn abgöttisch liebenden Mutter – unser Dichter war das einzige Kind – sowie seines Jugendfreundes Stephan von Millenkovich angewiesen, der mit ihm zusammen bei der kaiserlichen Armee gedient hatte und mit dem ihn Zeit seines Lebens eine innige Freundschaft verband!
Ferdinand von Saar fühlt sich von Beginn an zum Dramatiker berufen: es wird ihm diese Überzeugung, die er ungeachtet der mannigfachen Mißerfolge seiner Bühnenstücke stets aufrecht erhielt, nachgerade zu einer fixen Idee, die vor allen Dingen in jener Beharrlichkeit manifest wird, mit der er zeitlebens am Drama festhält; bis in das Alter verharrt er in dieser unerschütterlichen Überzeugung, und erst die beständigen Mißerfolge als Dramatiker vermochten ihn schließlich dazu zu bewegen, auf das Gebiet der Novellistik auszuweichen, das er tief innerlichst als eines wahren Poeten unwürdig erachtete: im Drama und in der Lyrik erkannte er die höchsten Aufgaben des Dichters, und diese Ansicht wird umso eher begreiflich, als nicht wenige Dichter, die nicht allein sowohl als Erzähler auftraten, eine ähnliche Auffassung vertraten.
Wollen wir zunächst noch bei dem Dramatiker Saar verweilen: in der Tat dürfen wir annehmen, daß nur höchst unglückliche Umstände den Bühnenerfolg verhinderten, wie denn sein ganzes Leben und Streben stets von einem merkwürdigen Unstern begleitet schien, der ihm jene allgemeine Anerkennung entzog, die er sich kraft seines Talentes zweifellos erworben hätte! Namentlich das Doppeldrama „Heinrich IV“ und sein „Thassilo“ hätten es verdient, sich einer ausgebreiteteren Gunst des Publikums zu erfreuen. In diesen beiden Historiendramen zeigt sich die Befähigung Saars zum Dramatiker wahrscheinlich am auffälligsten: sicher wird der Blankvers beherrscht, es fehlt weder an Dynamik der Handlung noch an poetischem Gehalt des Stoffes und dramatischer Kraft der Sprache, und selbst in Hinblick auf ihre Bühnenwirksamkeit scheinen die Stücke ihren Zweck nicht zu verfehlen. Dasselbe gilt in vielerlei Hinsicht auch für sein Drama „Die beiden de Witt“, ebenfalls ein Historiendrama, das insgesamt jedoch hinter den beiden Erstgenannten zurücksteht und nicht ausschließlich dem Blankvers folgt. „Tempesta“ ist ein in ungebundener Sprache komponiertes Künstlerdrama und gleicht in der Analogie Goethes „Torquato Tasso“, ohne freilich den hohen Anspruch des goetheschen Werkes im entferntesten zu erreichen. Da im Vergleich mit Goethe auch ein ansonsten untadeliger Dichter nur schwer bestehen kann, muß zur Ehrenrettung unseres Dichters gesagt werden, daß der „Tempesta“ gleichwohl ein gutes und fertiges Stück Bühnendichtung ist, das jedoch sowohl an Gestaltungsgabe als an Trefflichkeit des Inhaltes hinter den Geschichtsdramen zurückbleibt. Akkurat dem schwächsten Stück unseres Dichters, dem in ungebundener Sprache verfaßten Bauerndrama „Eine Wohltat“, wurde der größte Bühnenerfolg zuteil, obwohl auch dieses nur wenige Male, indes mit bescheidenem Erfolge, aufgeführt wurde; es mag dies als Beweis gelten, wie sehr der Geschmack des Publikums jener Zeit schon bestochen war und die volkstümlichen und anspruchslosen Stücke allgemein in weit höherem Ansehen standen als noch einige Jahrzehnte zuvor das klassische Drama Grillparzers. Der Rest seines dramatischen Werkes ist indes nur in Fragmenten auf uns gekommen, wobei insbesondere das Historiendrama „Ludwig XVI.“, ähnlich wie die beiden Dramen „Heinrich IV“ und „Thassilo“, zu den größten Erwartungen berechtigte (weiteres Dramenfragment: Benvenuto Cellini). Auch wenn unserem Dichter, ungleich manch anderem seiner Zeitgenossen, der Erfolg auf der Bühne verwehrt geblieben ist: wird ein fähiges Urteil doch kaum den Umstand verkennen, daß es weit mehr die persönliche Disposition des Dichters und die besonderen Zeitumstände als die mangelnde Befähigung waren, die ihn nicht zum Bühnendichter qualifizierten; denn mit seinem „Heinrich“ und „Thassilo“ hat uns der Dichter auch als Dramatiker ein Vermächtnis hinterlassen, das uns zu jener Behauptung berechtigt, Saar sei als Dichter recht eigentlich universell gewesen und habe in sämtlichen Gattungen Werke von bleibender, literarischer Qualität geschaffen!
Anders verhält es sich bei Ferdinand von Saar als Lyriker: denn obwohl er uns auch in dieser poetischsten aller Gattungen ohne Zweifel manches Kleinod hinterlassen, möchten wir ungeachtet des Umstandes, daß er als Dramatiker den geringsten Erfolg hatte, gleichwohl behaupten, daß uns mit Saars Lyrik wahrscheinlich das insgesamt schwächste Momentum seiner Dichtkunst vorliegt. Zu sehr wird die Lyrik des Dichters, trotz der poetischen Stoffbehandlung, vom dichterischen Gegenstande abgezogen, sodaß insbesondere seine späte Lyrik häufig von Festdichtungen, die als Auftragsarbeiten für den kaiserlichen Hof entstanden sind, sowie von Huldigungslyrik an bestimmte Personen geprägt ist. Breiteren Raum innerhalb seiner Lyrik nehmen auch Gegenstände politischer und gesellschaftskritischer Natur ein, welche zum größten Teil reflexiven Charakter haben und weit mehr an unsere Vernunft als an unser Gefühl appellieren; und namentlich in Ansehung des Gegenstandes, der im historischen Kausalnexus durch jene Zeit des Wandels, in der unser Dichter lebte, durchaus transparent wird, hat sich Saar als Lyriker viel vergeben, da er anders in der Art und Weise, den Stoff zu behandeln, sich stets als wahrer Poet erweist. Niemals fehlt es ihm an trefflichen Ausdrücken und poetischen Wendungen, den Gegenstand seiner Dichtung im rechten Lichte vorzustellen – wenn nur der Gegenstand an und für sich ein poetischer wäre! Allein begegnet es zuweilen, daß sich Gegenstand und Stoffbehandlung glücklich verbinden, vermag er seiner Lyrik das Höchste abzugewinnen. Beispiele der letzteren Art finden wir in seinen gelungensten Gedichten: „Kindesthränen“ oder „An einen kleinen Feuerfalter, der eine Nelke umflog“ sind Beispiele einer echten und wahrhaft innigen, poetischen Empfindung auch dem Gegenstande nach und rühren uns durch jene unvergleichliche Tugend, im oft Übersehenen, vermeintlich Unbedeutenden das tiefgreifende und barmherzige Wirken der waltenden Gottheit zu erkennen. Und so ist denn, wie so oft bei Saar, vorzüglich in jenen Gedichten, wo es dem Dichter gelingt, im Mikrokosmos unseres Daseins, im Einzelschicksal gleichsam den unverzichtbaren Teil jener großen, allgemeinen Idee zu erkennen, die das menschliche Dasein ausmacht, seine Wirkung am größten; wie er uns auch in seinen Sonetten und Liebesgedichten dort, wo er das innerste Wesen der Poesie sich auf freie und natürliche Weise entfalten läßt, mit seiner größten Kraft entgegentritt. Überhaupt dürfen wir sagen, daß sich Saar, so einfach seine Gedichte im Aufbau zumeist sind – er bevorzugt sehr häufig den iambischen Vierzeiler mit Kreuzreim, eine der einfachsten Gedichtformen – in der Pluralität und Totalität der Beherrschung der einzelnen Gattungen als ein Meister erweist. Ob Ode, Sonett, Blankvers, Stanze, Hymnus, Hexameter, Distichon, Alexandriner – nichts dergleichen ist unserem Dichter fremd, und in sämtlichen Versarten hat er gelungene Beispiele seiner Dichtkunst zu schaffen gewußt. Und eben hierin fühlt sich Ferdinand von Saar ganz der klassischen Dichtkunst verpflichtet: in seinem Herzen und Wollen stets ein ganzer Dichter, vertritt er die Auffassung, daß ein wahrer Dichter um die normativen Gesetze der Poesie Bescheid wissen müsse und derjenige kein rechter Dichter genannt zu werden verdient, der nicht wenigstens der äußeren Form nach imstande ist, jegliche Art und Gattung der Dichtkunst zu beherrschen. Als ein unbestechlicher Bewahrer der klassischen Form ist er wohl auch das beste Beispiel eines wahren Dichters, der, nebst dem Inhalte, stets auch jene berechtigte Forderung stellt, die äußeren Formen der Dichtkunst in rechter Weise zu beobachten. Diese seine Bedeutung als Wahrer der klassischen Form ist umso höher anzuschlagen, als er einer der Letzten seines Faches war, die ein solches Wissen noch für eine gleichsam unverzichtbare und integrale Prämisse hielten, um überhaupt als Dichter zu gelten: denn in der Gegenwart scheinen die äußeren, in der poetischen Tradition wurzelnden Formen der Dichtkunst weit eher ein Feld der Wissenschaft, der Philologie und der Literaturforschung, geworden zu sein als daß man von einem Dichter, der sie ja zuallererst als Werkzeug zum praktischen Gebrauche benötigt, erwarten könnte, daß er, was früher als selbstverständliches Rüstzeug eines durchschnittlich begabten Poeten galt, über derlei Dinge Bescheid wüßte! Doch es wäre zu einfach gedacht, unseren Dichter hier nur als Vertreter der ästhetischen Form zu würdigen: mit seinen „Wiener Elegien“ hat er uns ein schönes und formvollendetes Zeugnis auch seiner lyrischen Dichtkunst hinterlassen, das von einer lebhaft empfundenen, innigen Liebe zu seiner Vaterstadt getragen wird und gerade deshalb so lebendig auf den Leser wirkt. Die „Wiener Elegien“ bezeichnen denn auch den Wendepunkt im Leben des Dichters, der nun endlich, durch einige ihm wohlgesinnte Gönner gefördert, auch jene öffentliche Aufmerksamkeit erfährt, die er längst verdient hatte! Auch in dem komischen Versgedicht der „Pincelliade“ hat uns der Dichter ein wahres Juwel seiner Dichtkunst hinterlassen – und dies umso mehr, als er hier entgegen seiner Neigung zum elegischen Ton ein Stück schuf, das wahrhaften Humor und liebevolle Hinwendung zum Gegenstand erkennen läßt und an dessen Entstehung der Dichter nach seinem eigenen Zeugnis mit Lust und Liebe arbeitete! Die Wohltat, welche der Dichter verspürt haben mochte, sich einmal vom gewohnt schwermütig-elegischen Tonfall seiner übrigen Werke abzuwenden, wird in diesem komischen Stücke auf die denkbar angenehmste Weise fühlbar! Und mag unser Urteil auch mehr oder weniger zutreffen – jenes Urteil, in der Lyrik des Dichters das vielleicht insgesamt schwächste Momentum seiner Kunst zu erblicken: so darf, ja muß gesagt werden, daß Saar sich auch in gewissen Augenblicken seiner Lyrik als wahrer Meister seines Faches erweist, dessen einzelne, lyrische Stücke mit vollem Rechte die Nachwelt überdauert haben!
Und so kommen wir denn zuletzt zu jenem Gebiet, auf dem Ferdinand von Saar – die „Wiener Elegien“ vielleicht ausgenommen – seine größten Erfolge feiern konnte: jenem der Novellistik! Bereits mit seinem Erstlingswerk „Innocens“ gelang dem Dichter diesbezüglich ein achtbarer Erfolg. Wie eigentlich bei fast allen seiner Werke, die am Anfange bei Bühnendirektoren und Verlägen gleichermaßen durchwegs auf Ablehnung stießen (ein Umstand, der sehr zur Demoralisierung des Dichters beitrug), gebührt auch hier das erste Verdienst seinem Verleger Georg Weiß aus Heidelberg, der die Qualitäten unseres Dichters zuallererst erkannte und schätzte und bis zu seinem Tode Saars treuer Verleger blieb. Durch den bescheidenen Erfolg seiner ersten Novelle ermutigt, verlegte er sich in den folgenden Jahren – dem Zug der Zeit mit einer Art von Resignation folgend – immer mehr auf das Gebiet der Novelle, wo er sein Talent als Dichter noch am ehesten gewürdigt sah! Was sich ihm in Ansehung seiner Lyrik zuweilen abträglich zeigte – der ihm eigene Hang zur Behandlung an und für sich „unpoetischer“ Gegenstände der Reflexion – kommt seinem erzählerischen Werk nun umso mehr zugute! Wahrhaft meisterlich weiß er als scharfer Beobachter des realen Lebens die Verhältnisse der Menschen zu schildern; auch fehlt es ihm nicht an psychologischem Scharfblick, in die Seelentiefe seiner Personen einzutauchen. Als realistischer und naturalistischer Erzähler, der auch der Schilderung der dunklen Seiten menschlicher Existenz gegenüber keine Scheu empfindet, bedarf es gar häufig einer gedoppelten Kunst, den wie bei seiner Lyrik oftmals „unpoetischen“ Stoff durch klassische Sprachkunst gleichsam zu poetisieren; und absonderlich diese letztere Kunst beherrscht Saar meisterhaft! Es gibt keinen Gegenstand, der so häßlich beschaffen wäre, daß der Dichter ihn nicht durch die ästhetische Komposition der Sprache zu wahrer Dichtkunst verklärte – ein nicht gar einfach zu erreichendes Ziel, wie man weiß, da jeder, der sich selbst ein Weniges aufs Dichten versteht, einsehen wird, daß etwa ein Schäferidyll als poetischer Stoff per se viel weniger Sorgfalt auf jene Kunst verwenden muß, durch reine Sprachkunst poetisiert zu werden, als dergleichen geschehen muß, sobald wir eine alltägliche, vielleicht sogar abstoßende Begebenheit, aus dem realen Leben gegriffen, im Interesse der Poesie zu behandeln haben. In jener Kunst, das reale Leben seiner Zeit poetisch zu behandeln, liegt vielleicht das größte Verdienst unseres Dichters: mit meisterhaftem, reflexivem Scharfsinn erforscht er sogar die dunkelsten Seiten der menschlichen Seele und unterwirft sie dem Gebot der Poesie, sodaß sie, durch die poetische Behandlung des Stoffes verklärt, zur hohen Dichtkunst werden. Wahrhaft meisterlich erscheint sein Erzähltalent in seinen bekanntesten Novellen wie „Leutnant Burda“ oder „Schloß Kostenitz“, wo ihm überdies seine eigene Vergangenheit als Offizier sehr zustatten kommt und er aus dem Born seiner eigenen Erfahrungen und Erlebnisse schöpfen kann; und jene seltsam-innige Weise, wie Saar, im beständigen Ringen um seine Dichtkunst in gewissem Sinne selbst ein Verkannter der Gesellschaft, sich der Schicksale der Ausgestoßenen, der Geringen und Verbannten des Lebens anzunehmen weiß, erregt in uns Sympathie und Anteilnahme für die kleinsten und unscheinbarsten Dinge, für die mannigfachen Schicksale unbekannter und übersehener Menschen, deren Taten gleichwohl das große, sich ewig drehende Rad des Weltenlaufes begründen; „ist doch“, wie der Dichter in seinem "Exzellenzherr" bedeutungsvoll äußert, „das Leben jedes Einzelnen ein Stück Weltgeschichte!“
In mehreren Sammlungen erscheinen nun nach und nach die Juwelen seiner Erzählkunst, die nachmals unter dem allgemeinen Titel „Novellen aus Österreich“ bekannt geworden sind: am Anfang noch als „Novellen“ betitelt, rangieren sie später in Zyklen: „Schicksale“, „Frauenbilder“, „Herbstreigen“, „Nachklänge“, „Camera obscura“ und „Tragik des Lebens“ heißen die so betitelten Sammlungen und lassen uns bereits die schicksalsschwere, düstere Stimmung erahnen, die in all seinen Novellen mehr oder weniger stark zum Ausdrucke gelangt. Als ein in seiner unbedingten Wahrheitsliebe unbestechlicher Erzähler, vom Pessimismus der schopenhauerschen Philosophie beeinflußt, erweist sich Saar als meisterhafter Schilderer der „Pantragik menschlichen Seins“, dessen Beschreibung er in den mannigfachsten Wendungen und Facetten unternimmt. Als bestes und unbestechlichstes Vorbild dient ihm dabei die eigene Zeit, wo er die große Revolution und den damit emporkeimenden Paradigmenwechsel des „Ancien Régime“ und der „Belle Époche“ hin zur Gegenwart miterlebt und den endgültigen Zerfall der Donaumonarchie gleichsam vorausahnt; in diesem Sinne stets der fremden wie der eigenen Vergangenheit zugewandt, verbindet er damit auch den Zer- und Verfall klassisch-traditioneller Werte, die er im altgewohnten, ihm vertrauten Gesellschaftsgefüge verkörpert sieht und blickt mit Skepsis, ja wohl auch mit geheimer Furcht auf das allmähliche, gleichwohl unaufhaltsame Heraufdämmern der modernen Zeit!
Wenn – zuweilen wenig zutreffend – behauptet wird, Saar sei ein „Wegbereiter der Moderne“ gewesen, so war er es einzig und allein insoferne, als er die Erscheinungen unserer „modernen“ Zeit noch gleichsam in ihrem ersten Keim erlebte, dessen Zweige und Äste bis weit in unsere Gegenwart hereinreichen. Nichts jedoch ist falscher, in dem Dichter Ferdinand von Saar einen „Wegbereiter der Moderne“ zu sehen: tritt er den Neuerungen seiner Zeit doch nicht nur als Mensch kritisch gegenüber, sondern verteidigt den Standpunkt des „wahren“ und in diesem Sinne freilich klassischen, der Tradition verpflichteten Poeten in beinahe allen Stücken. Was alleine Saar zum „modernen“ Dichter qualifiziert, war, daß er seine Augen vor den Umwälzungen seiner Zeit keineswegs verschloß, sondern daß er es im Gegenteil für ein tief innerliches Bedürfnis, ja seinen dichterischen Auftrag ansah, die mannigfachen Erscheinungen dieses Umwälzungsprozesses in seinen Novellen, aber auch in vielen seiner Gedichte zu dokumentieren. Mit seinen „Novellen aus Österreich“ jedenfalls ist ein bleibendes Kapitel Literaturgeschichte auf die Nachwelt gekommen, deren Bedeutung, wie das Gesamtwerk Saars überhaupt, leider noch immer unterschätzt wird; denn gemessen an den Ambitionen und Maßstäben, welche ein Dichter an sich selbst legt, in seinem Ringen um Anerkennung und steten, inneren Kampfe gegen das ungünstige Geschick und die Widrigkeiten des Lebens hat es wohl selten einen Dichter gegeben, der sich jene bescheidene Anerkennung, die ihm gegen Ende seines Lebens zuteil geworden, so schwer erringen mußte! Durch die Unterstützung solch adeliger Gönnerinnen wie Franziska und Josephine von Wertheimstein oder Elisabeth Fürstin von Salm, deren „echt medicäischen Geist“ der Dichter bei allerlei Gelegenheiten pries, erlangte er nach langen Kämpfen finanzielle Unabhängigkeit und schließlich auch als Festdichter bei kaiserlichen Hofzeremonien Bedeutung und allgemeine Wertschätzung. So war ihm verdientermaßen ein später Ruhm beschert, und jener Umstand, daß er sich selbst gerne als „Wiener Poet“ bezeichnete, mag als ein aufrichtiges Zeugnis dienen, mit welch inniger und unwandelbarer Liebe er seiner Geburts- und Vaterstadt, der „alten Kaiserstadt Wien“, Zeit seines Lebens anhing; und schließlich begehrte er ja selbst nichts weiter, als sich mit seinem lange und hart erkämpften Ruhm zu bescheiden und als Dichter seiner Stadt Dank und Anerkennung zu genießen. Eine unheilbare und hartnäckige Krankheit bewog ihn zuletzt, Hand an sich selbst zu legen und den Freitod zu wählen. –

Ein Dichterbild liegt nun vor uns – ein Dichterbild, trotz seiner wohlmeinenden Absicht unwert dessen, was wir uns gleichsam zum Vorsatze gemacht – nämlich den Dichter Ferdinand von Saar in seiner rechten Bedeutung zu würdigen. Denn ganz und gar verfehlt erschiene es, ihn, der sich selbst in aller Bescheidenheit mit jenem Epitheton des „Wiener Poeten“ zufriedengab, bedeutungsverkleinernd nur als Dichter der Wiener zu sehen; was wir bei aller Kritik und minder Schätzbarem an Vortrefflichem und Fertigem an ihm finden, sollte genug sein, ihn nicht nur als „Wiener Poet“, sondern als Dichter der Österreicher schlechthin zu ehren: und in diesem Sinne freilich, in der Universalität seines Schaffens und dem edlen Begriff des wahren Dichters, den er allezeit in sich selbst kultivierte und in eben jener einzigen Weise, wie er sein ganzes Leben der Dichtkunst unterwarf, war er ein Strebender, welcher des Namens eines „heimlichen Nationaldichters“ unseres schönen Landes wahrhaft nicht unwürdig ist!




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