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(Siegfried von Aue)

Siegfried grüßt seinen Bruder Thomas!

[Ich hoffe, Bester, Du befindest dich wohlauf. Ich selbst befinde mich bei guten Kräften und blicke doch nicht ohne Zuversicht in die Zukunft. Über das Befinden unseres Bruders wage ich keine Fragen zu stellen. Hat es doch den Anschein, als habe er sich nun so weit von der Welt zurückgezogen, daß selbst das Freundeswort ihn nicht mehr erreicht. Willst Du mir dennoch Kunde geben, so sei Dir Dank dafür.]
Gerade habe ich Schopenhauers "Die Welt als Wille und Vorstellung" gelesen und bin wirklich sehr beeindruckt. Schopenhauers Ideen zeigen viele Parallelen mit fernöstlichen Lehren, wie er denn auch oft des Brahmanismus und Buddhismus Erwähnung tut. Schopenhauer ist ja für seine pessimistische Weltsicht bekannt - ein Vorwurf, den man ja auch gelegentlich der buddhistischen Religion macht. Wie diese geht auch Schopenhauer von der grundsätzlichen Leidhaftigkeit des Lebens aus. Und ich glaube, daß man in Wahrheit bei realistischer Einschätzung der Dinge sich dieser Erkenntnis nicht entziehen kann. Auch Sokrates sagt ja schon: Selbst wenn der Tod uns ins Nichts würfe - wäre ein endloser, traumloser Schlaf nicht diesem Dasein vorzuziehen? Und Sokrates neigte gewiß nicht zur Schwermut. Im Buddhismus werden Krankheit, Alter und Tod als die unvermeidlichen Leiden genannt. Betreffen diese a l l e Kreaturen, so kommen beim Menschen noch weitere hinzu. Dies ist zum einen bedingt durch seine Vorstellungskraft, die ihn mögliches Leid antizipieren bzw. vergangenes Leid unter Umständen noch lange Zeit nachempfinden läßt. Zum anderen sind all jene vermeidbaren Leiden zu nennen, welche Menschen einander aus Gier, Haß und Verblendung (im Buddhismus als die Leidenswurzeln vorgestellt) zufügen. Wieviel besser wäre die Welt schon, wenn die von Menschen selbst geschaffenen Leiden nicht mehr wären! Für eine solche Welt etwa hat Jesus sein Leben eingesetzt. Kehren wir jedoch zum Ausgangspunkt zurück: schwerlich wird man, so sagte ich, bei vernünftiger Betrachtung leugnen können, daß die Welt ein überwiegend leidvoller Ort ist. Schopenhauers Erklärung, warum wir dennoch immer wieder ins Leben geworfen werden, und wie wir diesem Kreislauf entrinnen können, ähnelt in frappierender Weise den buddhistischen Vorstellungen, wenn auch die Begrifflichkeit selbstverständlich eine andere ist. (Im übrigen weist Schopenhauer darauf hin, im wesentlichen aus eigenem auf diese Lösung gekommen zu sein, da zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung o. a. Werkes noch kaum Arbeiten über den Buddhismus im Westen zu finden waren. Erst in den folgenden Jahren erschienen mehrere fundierte Abhandlungen, v. a. in englischer Sprache.) Vielleicht sollte man aber zunächst auf die Frage eingehen, wie es denn aus Sicht des Philosophen um die Unsterblichkeit des Menschen bestellt sei. Schopenhauer meint, daß das eigentliche Wesen des Menschen ewig ist. Er stellt die Frage, wie etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Nichts geboren, sodann aber von ewiger Dauer sein könne (wie dies etwa die Vorstellung der Seele bei monotheistischen Religionen postuliert). Tatsächlich neigen wir ja dazu, die Ewigkeit als etwas in der Zukunft Unendliches zu sehen. Dies trifft aber keinesfalls zu! Ewigkeit ist nur vorstellbar als endlos in Zukunft und Vergangenheit. Sowenig sie ein Ende haben kann, kann sie auch einen Anfang haben! Ich denke, dieser Behauptung wird niemand widersprechen. Eine unsterbliche Seele (ich bediene mich der Einfachkeit halber dieses Begriffs für des Menschen innerstes, unzerstörbares Wesen ohne damit eine bestimmte religiöse Vorstellung implizieren zu wollen) ist also nur als ewig zu denken, also anfangs- und endlos. Die Alternative, daß wir aus dem Nichts kommen, um wieder ins Nichts zu verschwinden, scheitert letztlich an ihrer Unvorstellbarkeit. Zurecht bemerkt Schopenhauer, es sei undenkbar, daß die Natur fortwährend aus dem absoluten Nichts Leben erschaffe, nur um es wieder dem absoluten Nichts anheimzugeben. Bei weitem plausibler erscheint hier der Gedanke einer Wiedergeburt der Seele. (In Parenthese sei bemerkt, daß die Idee der Wiedergeburt eine uralte Vorstellung ist. Wir finden sie nicht nur in Asien seit Jahrtausenden, auch Sokrates entwickelte sie, und selbst einigen frühchristlichen Sekten war der Wiedergeburtsgedanke nichts Fremdes; diese wurden allerdings bekanntlich später von der römischen Kirche zu Ketzern erklärt.) Wie nun die Seele oder das innerste Wesen beschaffen sei, ist wohl eine schwierige metaphysische Frage. Sicherlich ist sie nicht mit unserem Intellekt identisch, dieser ist gewissermaßen der Welt des Materiellen, also dem Vergänglichen zuzurechnen. Auch hierin findet sich Übereinstimmung zwischen dem großen Philosophen und den buddhistischen Lehren. Was Schopenhauer im übrigen hoch anzurechnen ist, ist die Tatsache, daß er den Tieren eben dasselbe unsterbliche Wesen zuerkennt, wie es den Menschen zukommt. Unser innerstes Wesen unterscheidet sich durchaus nicht von dem der Tiere. Was uns von jenen unterscheidet, ist lediglich unsere Vernunft, welche, wie wir oben sahen, aber dem Vergänglichen zuzurechnen ist. Daß allein dem Menschen, als einem zu Selbstbewußtsein erwachten Wesen, eine Seele zukomme, wird von Schopenhauer in ähnlicher Weise widerlegt, wie dies Luise Rinser im Vorwort zu Drewermanns "Über die Unsterblichkeit der Tiere" tut. Man dürfe, so die Autorin, dem Tier nicht, wie oft geschehen, deshalb eine Seele absprechen, weil es seiner selbst nicht bewußt sei. Denn wie viele Menschen lebten mehr oder minder unbewußt dahin? Eine sehr richtige Beobachtung, wie mir scheint. Nehmen wir also dies als gegeben: die Seele ist ewig und die materielle Welt ist leidvoll. Somit sind wir wieder bei unserer obigen Fragestellung, warum die Seelen immer wieder zurück in die Welt geworfen werden, und wie man diesem Kreislauf entgehen könne. Der Titel von Schopenhauers o. a. Schrift ist Programm. W i e uns die Welt erscheint, ist sie nur ein Produkt unserer Vorstellung, ein Ding a n s i c h ist für uns nicht faßbar, da allein die Wahrnehmung durch unsere Sinne und deren Interpretation im Gehirn unser Bild der Welt und dem, was darin ist, bestimmt. (Dies ist an sich ein altes philosophisches Theorem, schon Platons Höhlengleichnis kann man in diese Richtung deuten. Der Buddhismus erkennt ja überhaupt allen Dingen eine inhärente Existenz ab, er spricht hier vom Phänomen der "Leerheit".) D a ß aber die Welt überhaupt ist, begründet Schopenhauer mit dem Willen zum Leben. Diesen gelte es zu überwinden, um nicht wiedergeboren zu werden. Die Aufforderung zur Überwindung des Willens zum Leben klingt freilich für westliche Ohren fatal. Doch finden wir auch hier eine deutliche Übereinstimmung mit buddhistischen Lehren. Diese sprechen von der "Anhaftung" an das irdische Leben, welche wiederum aus den Begierden entsteht, deren Wurzel Unwissenheit (Verblendung) ist. Dies erscheint sehr plausibel. Wer diese Welt für ein tatsächliches Gut hält, wird nach ihr zurückverlangen. Folge: er wird wiedergeboren. Wer allerdings das wahre Wesen unserer Existenz und deren unvermeidliche Leidhaftigkeit erkannt hat, der unterliegt nicht mehr dem Kreislauf der Wiedergeburten und geht ins Nirwana ein, einem Zustand völligen Friedens. Wobei Schopenhauer treffend bemerkt, daß Nirwana nicht schlechthin Nichts bedeute ? vielmehr sei es nichts, was sich von Menschen vorstellen, mithin sagen lasse. Es ist also etwas, daß unserer Erfahrung vollständig entzogen ist, der es sich somit gleichsam als Nichts darstellen muß. (Nebenbei: auch ein Katholik z. B. wüßte ja wohl schwerlich anzugeben, wie man das Paradies sich vorzustellen habe.) Aus diesen hier freilich sehr gedrängt dargestellten Gedanken ergibt sich Folgendes: 1) Die Seele der lebenden Wesen ist von ewiger Dauer. 2) Aus Unwissenheit werden die Seelen in die - wiewohl als leidvoll erlebte - Welt wiedergeboren. 3) Wenn die Seele Kenntnis über die wahre Beschaffenheit der Welt erlangt, ist sie dem Kreislauf der Wiedergeburten nicht mehr unterworfen. Zwei Fragen drängen sich mir indes nach dem Gesagten auf: zum einen, ist die rein intellektuelle Erkenntnis dieser Wahrheit ausreichend? Offenbar nicht, da ja der Intellekt nicht unserem ewigen Wesen angehört, die Erkenntnis also auf einer viel tiefer liegenden Ebene stattfinden muß. Aus diesem Grunde kommt ja im Buddhismus der meditativen Praxis so große Bedeutung zu. Die zweite Frage muß nach den ethischen Implikationen einer solchen philosophischen (religiösen) Anschauung gehen. Alle Hochreligionen vermitteln den Menschen ja auch moralische und ethische Richtlinien, wie auch die Philosophie sich stets die Frage stellte, wie recht zu leben sei. Mitunter ist der Einwand erfolgt, daß sich schwerlich für eine bessere Welt einsetzen werde, der ihr nur einen Scheingehalt zubillige. Dieser Einwurf ist durchaus nachvollziehbar. Tatsächlich darf über den metaphysischen Problemstellungen nicht die Frage, wie zu leben sei, vergessen werden. Im Buddhismus wird diese Frage ganz klar beantwortet: Mitgefühl, heilende Hinwendung sind oberstes Gebot. Wenn man erkennt, daß jede schlechte Handlung aus derselben Verblendung erwächst, die uns im Samsara (dem Kreislauf der Wiedergeburten) gefangen hält, ist das Bemühen um gute Handlungen der erste Schritt in die richtige Richtung. Zudem finden ja nach buddhistischem Glauben alle guten und schlechten Taten ihren Niederschlag im Karma, das bestimmend für unsere Wiedergeburt ist. Der wahre Weise unterscheidet letztlich nicht mehr zwischen sich und anderen, da er die grundsätzliche Wesensgleichheit aller Menschen erkannt hat. Mehrmals weist Schopenhauer, völlig zu recht, wie mir scheint, auf die gleichen ethischen Grundlagen von Buddhismus und der Lehre Christi hin.

Von den vielen interessanten Überlegungen, die Schopenhauers o. a. Arbeit (immerhin 1000 Seiten dick) bietet, erscheint mir noch seine Darlegung des Wesens von Philosophie und Religion besonders bemerkenswert. Diese findet sich unter dem Kapitel "Über das metaphysische Bedürfnis des Menschen". Kein Wesen dieser Erde außer dem Menschen hinterfragt sein Dasein, ist sich seiner Endlichkeit und der damit verbundenen Sinnlosigkeit all seiner Bemühungen mehr oder weniger deutlich bewußt. Daraus erwächst die Frage nach der Transzendenz unseres Seins. Sowohl Philosophie als auch Religion haben sich um die Beantwortung dieser Frage bemüht. Die beiden unterscheiden sich indes darin, daß die Philosophie ihre Beglaubigung i n s i c h, die Religion jedoch außerhalb ihrer hat. Das heißt, die Philosophie kommt durch Nachdenken, Prüfung und vernünftiges Urteil zu ihren Schlüssen, die Religion durch Glauben und Unterwerfung unter eine Autorität. Ein philosophisches System muß in sich schlüssig und widerspruchsfrei sein, dies gilt selbstverständlich auch für metaphysische Problemstellungen, auch wenn diese tranzendente, also erfahrungsjenseitige Fragen betreffen. Die Religion hingegen gründet auf dem Mysterium, ihre Aussagen sind durchweg allegorischer Art. Der Vernunft offenkundige Widersprüche sind dabei unvermeidlich. Dies heißt keinesfalls, daß den Religionen keine Daseinsberechtigung zukommt! Denn nur die wenigsten Menschen, wie Schopenhauer jedenfalls mit Recht bemerkt, sind wohl in der Lage, den Überlegungen der Philosophie zu folgen und durch eigenes Nachdenken ihre Beglaubigung in der Vernunft zu erkennen. Für die Mehrheit der Menschen also bietet die Religion einen Weg, durch Glauben eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, welche sich wohl doch den Meisten mehr oder minder aufdrängt, zu finden. Und da die Religion in Hinsicht auf das Praktische eben dahin führt, wohin auch die Philosophie führen würde, so kann sie für die Mehrheit deren Stelle recht gut einnehmen. Der einzige Nachteil der Religionen liegt in dem Umstand, daß sie das Allegorische ihrer Aussagen niemals eingestehen dürfen, diese vielmehr zu unbezweifelbaren Dogmen erheben. Wieviel Unheil aus der Verteidigung solcher Dogmen mit Feuer und Schwert schon erwachsen ist, belegt die Menschheitsgeschichte zur Genüge. Hierin scheint mir denn auch die große Stärke des Buddhismus zu liegen: zum einen verfügt dieser über ein philosophisches System, welches durch Nachdenken geprüft werden kann. Buddha selbst fordert dazu auf, wendet sich dabei aber bezeichnenderweise an die Mönche und Gelehrten. Daß es dem Buddhismus gelang, ohne Anwendung von Gewalt Verbreitung zu finden, sollte uns zu denken geben. Auch Auffassungsunterschiede unter den buddhistischen Schulen führen keineswegs zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, wie wir dies etwa von den Konfessionsstreiten in Europa kennen. Da sich aber der Buddhismus wie jede Religion an die große Menge wendet, welche subtilen philosophischen Reflexionen nicht zu folgen vermag, bedient er sich gleichwohl auch der Mythen, freilich ohne jemals in dogmatische Unduldsamkeit zu verfallen. Überhaupt könnte man den Buddhismus als die wahre Religion der Toleranz bezeichnen (wenngleich diese auch der Lehre Jesu ursprünglich wesentlich ist).
Dies sind also die Gedanken, die mich zur Zeit beschäftigen. Es wäre für mich recht interessant, Deine Meinung zu den oben angestellten Überlegungen zu hören, da Du ja ebenfalls ein Kenner der Philosophie der Neuzeit zu nennen bist.

Es grüßt Dich von Herzen

Siegfried




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