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79

 

Einbildung.

 

Die Ursache und die Wirkungen der Liebe.

Kleopatra [1].

 

80

 

Wir halten uns niemals an die Gegenwart. Wir nehmen die Zukunft auf eine Weise vorweg, als wenn sie zu langsam kommen würde, wie um ihren Lauf zu beschleunigen, oder wir rufen uns die Vergangenheit zurück, als wollten wir sie festhalten, da sie zu schnell vergangen – so unbesonnen, daß wir durch Zeiten irren, die nicht die unseren sind und keineswegs an jene einzige denken, an der wir Anteil haben, und so eitel, daß wir an jene denken, die nichts sind, und ohne Überlegung jene einzige verstreichen lassen, welche Bestand hat. Dies rührt daher, weil uns die Gegenwart gewöhnlich Schmerzen bereitet. Wir verbergen sie unserem Blick, da sie uns betrübt, und wenn sie uns angenehm erscheint, bedauern wir, sie entschwinden zu sehen. Wir sind bestrebt, sie durch den Gedanken an die Zukunft zu ertragen und glauben über Dinge zu verfügen, die nicht in unserer Macht stehen, für eine Zeit, die jemals zu erreichen wir nicht die geringste Versicherung haben [2]. Wenn jedermann seine Gedanken prüft, so wird er sie alle mit der Vergangenheit oder der Zukunft beschäftigt vorfinden. Wir denken beinahe überhaupt nie an die Gegenwart, und wenn wir doch einmal daran denken, so ausschließlich, um daraus Erkenntnis zu schöpfen, mit deren Hilfe wir über die Zukunft zu verfügen beabsichtigen. Die Gegenwart ist niemals unser Zweck. Die Vergangenheit und die Gegenwart sind unsere Mittel, die einzige Zukunft ist unser Zweck. Daher leben wir eigentlich niemals, aber wie hoffen zu leben, und indem wir uns stets bereiten, glücklich zu sein, ist es unvermeidlich, daß wir es niemals sein können [3].

 

81

 

Der Geist jener obersten Gerichtsbarkeit der Welt ist nicht so unabhängig, daß er nicht dem Umstande unterworfen wäre, durch den erstbesten Lärm verwirrt zu werden, der rings um ihn verursacht wird. Es bedarf keineswegs eines Kanonendonners, um seine Gedanken zu hemmen. Es bedarf nichts weiter als das Knarren einer Wetterfahne oder einer Seilwinde. Wundert euch nicht, wenn er im Augenblicke nicht wohl urteilt: eine Fliege umsummt seine Ohren [4]. Dies genügt, um ihn für einen guten Ratschlag unfähig zu machen [5]. Wenn ihr möchtet, daß er die Wahrheiten finden könne, dann verjagt jenes Tier, welches seine Vernunft in Schach hält und jenen mächtigen Verstand verwirrt, der die Städte und Königreiche beherrscht.

Siehe den lächerlichen Gott! O ridicolosissimo heroe [6]!

 

82

 

Cäsar war, so will es mir scheinen, zu alt, um die Welt zu seinem Vergnügen zu erobern. Diese Unterhaltung geziemte etwa Augustus oder Alexandern. Sie waren junge Leute, die man schwerlich aufhalten kann. Aber Cäsarn geziemte es, reifer zu sein [7].

 

83

 

Die Schweizer nehmen es übel, wenn man sie Edelmänner nennt und beweisen ihre gewöhnliche Abstammung, um als würdig für große Dienste erfunden zu werden [8].

 

84

 

„Weshalb, Bester, wollt Ihr mich töten?“ – „Wie, mein Lieber, wohnt Ihr nicht jenseits des Gewässers? Mein Freund, falls Ihr auf dieser Seite wohntet, so wär‘ ich ein Mörder, und dergleichen wäre unrecht, Euch auf solche Weise aus dem Wege zu räumen. Aber da Ihr eben nun einmal auf der anderen Seite wohnt, bin ich ein wackerer Mann, und es ist recht.“

 

85

 

Der gesunde Menschenverstand.

Sie sind gleichsam gezwungen zu sagen: „Ihr handelt unaufrichtig, wir schlafen nicht [9]“ usw. Wie gerne doch sehe ich diese gewaltige Vernunft gedemütigt und flehend [10]! Denn dies ist nicht die Rede eines Menschen, dem man sein Recht bestreitet und der es mit Gewalt und der Waffe in der Hand verteidigt. Es bereitet ihm kein Vergnügen zu sagen, daß man unaufrichtig handle, aber er bestraft jene Treulosigkeit mit Gewalt.

 

(IV) ELEND

 

86

 

Niedrigkeit des Menschen, bis er sich den Tieren unterwirft, bis er sie anbetet.

 

87

 

Unbeständigkeit.

 

Die Dinge haben verschiedene Eigenschaften und die Seele verschiedene Neigungen, denn nichts ist einfach, was sich der Seele darbeut, und die Seele beut sich niemals irgendeinem Gegenstande einfach dar. Daher kommt es, daß wir über ein- und dieselbe Sache zugleich weinen und lachen [11].

 

88

 

Unbeständigkeit.

 

Wir glauben, mit den Tasten des Menschen die einer gewöhnlichen Orgel anzuschlagen. Die Menschen sind in der Tat Orgeln, aber seltsame, veränderliche und immer wechselhafte (deren Orgelpfeifen nicht in regelmäßigen Anordnungen aufeinander folgen. Jene, welche nur die gewöhnlichen Töne anzuschlagen verstehen) würden darauf keine Harmonien erzeugen. Man muß nur die rechten Tasten zu finden wissen [12].

 

89

 

Wir sind so bedauerlich, daß wir an einer Sache nur unter jener Bedingung Gefallen finden können, uns zu kränken, wenn sie schlecht gelingt; dergleichen tausenderlei Umstände bewirken können und auch allezeit bewirken. Wer das Geheimnis gefunden haben würde, sich über das Gute zu freuen, ohne sich umgekehrt über das Schlechte zu betrüben, hätte das Rechte gefunden. Dies ist ein perpetuum mobile.

 

90

 

Zu viel Freiheit tut keineswegs gut.

 

Es tut keineswegs gut, alles Notwendige zu besitzen.

 

91

 

Tyrannei [13].

 

Die Tyrannei entspringt jenem Verlangen, etwas auf einem Wege erreichen zu wollen, was nur auf einem anderen erreicht werden kann. Wir ordnen verschiedene Pflichten verschiedenen Verdiensten zu: die Pflicht zur Liebe der Zuneigung, die Pflicht zur Furcht der Gewalt, die Pflicht zum Glauben der Erkenntnis. Man muß dergleichen Pflichten erfüllen; wir sind ungerecht, wenn wir sie verweigern, und ungerecht, wenn wir nach anderen verlangen.

Folglich sind solche Reden falsch und despotisch: „Ich bin schön, also muß man mich fürchten. Ich bin stark, also muß man mich lieben. Ich bin ...“ Und es ist gleichermaßen falsch und tyrannisch zu sagen: „Er ist nicht stark, also werde ich ihn nicht schätzen. Er ist nicht klug, also werde ich ihn nicht fürchten.“

 

92

 

Die Tyrannei besteht

im Verlangen nach der universellen

Herrschaft außerhalb

ihrer [eigenen] Ordnung [14].

 

Diverse Kammern [15] von Starken, von Schönen, von Wohlgesinnten, von Gottesfürchtigen, wovon jeder bei sich daheim und nicht anderswo herrscht; und bisweilen treffen sie aufeinander. Und der Starke und der Schöne streiten sich törichter Weise, wer denn nun Herrscher über den anderen sei, denn ihre Herrschaft ist ja von verschiedener Art. Sie können sich nicht verstehen. Und ihr Fehler ist, überall herrschen zu wollen. Nichts vermag das letztere, nicht einmal die Gewalt. Sie vermag nichts über das Reich der Gelehrten. Sie ist nur Herrscherin über die äußeren Handlungen [16]

 

93

 

Sooft es um die Frage geht, darüber zu entscheiden, ob wir Krieg führen und so viele Menschen umbringen, so viele Spanier [17] zum Tode verurteilen sollen, ist es ein einzelner, der darüber entscheidet und der obendrein im eigenen Interesse handelt. Dies aber müßte eine unparteiische, dritte Person sein.

 

94

 

Worauf soll der Mensch nun die Einrichtung der Welt, die er beherrschen will, begründen? Welch ein Wirrsal, wenn dies auf der Laune jedes Einzelnen geschieht! Geschieht dies auf der Gerechtigkeit, so beachtet er sie nicht [18]. Gewiß, kennte er sie, er würde diesen Grundsatz nicht eingeführt haben, den umfassendsten all jener Grundsätze, die sich unter den Menschen vorfinden: daß jeder den Sitten seines Landes folgen soll. Der Glanz der wahren Gerechtigkeit hätte alle Völker bezwungen, und die Gesetzeslehrer hätten anstelle jener unverbrüchlichen Gerechtigkeit nicht die Vorstellungen und Launen der Perser und Deutschen [19] zum Vorbild nehmen müssen. Man würde sie in alle Staaten der Erde und in alle Zeiten eingepflanzt sehen, wogegen wir nichts Rechtes oder Unrechtes bemerken, welches mit seinem Wesen nicht zugleich das Klima änderte: Drei Breitengrade verkehren die gesamte Rechtssprechung. Ein Meridian bestimmt über die Wahrheit. In wenigen Jahren des Herrschaftsbesitzes ändern sich die grundlegenden Gesetze. Das Recht hat seine Epochen, der Eintritt des Saturn in den Löwen [20] bezeichnet uns den Ursprung eines solchen Frevels. Welch lächerliche Gerechtigkeit, die von einem Fluß befriedet wird! Wahrheit diesseits, Irrtum jenseits der Pyrenäen [21].

Sie bekennen, daß die Gerechtigkeit nicht in solchen Gewohnheiten bestehe, sondern in den jedem Lande gemeinsamen Naturgesetzen liege. Gewiß würden sie dergleichen halsstarrig verteidigen, wenn die Anmaßung des Zufalles, welche die menschlichen Gesetze verbreitet hat, wenigstens ein Gesetz darunter vorgefunden hätte, das allgemein wäre. Aber die Possenreißerei ist solcher Art, daß die bloße Laune der Menschen sich so gar verschieden gestaltet hat, daß sich darin überhaupt nichts Allgemeines vorfinden läßt [22].

Diebstahl, Blutschande, Kinder- und Vatermord – all dergleichen hat schon seinen Platz unter den tugendhaften Handlungen gefunden [23]. Ist denn etwas Lächerlicheres möglich, als daß ein Mensch das Recht hat, mich zu töten, nur weil er jenseits des Gewässers lebt und weil sein Fürst sich mit meinem Fürsten überworfen hat, obwohl ich mich keineswegs mit ihm überworfen habe?

Es existieren zweifelsohne Naturgesetze [24], aber diese hübsche, verderbte Vernunft hat alles verdorben [25]. Nihil amplius nostrum est, quod nostrum dicimus artis est [26]. Ex senatus-consultis et plebiscitis crimina exercentur [27]. Ut olim vitiis sic nunc legibus laboramus [28].

Aus dieser Verwirrung resultiert, daß der eine meint, das Wesen der Gerechtigkeit bestehe in der Autorität des Gesetzgebers, ein anderer im Wohlwollen des Fürsten [29], noch ein anderer in den gegenwärtigen Gepflogenheiten, wobei das letztere das Sicherste ist. Nichts, wenn wir einzig der Vernunft folgen, ist gerecht per se, alles gerät mit der Zeit ins Wanken. Die Gewohnheit macht die ganze Rechtlichkeit aus, und dies alleine deshalb, weil sie seit jeher üblich ist. Dies ist die verborgene Grundlage ihrer Autorität. Wer sie auf ihr Entstehen zurückführt, wird sie unweigerlich vernichten. Nichts ist so verkehrt wie jene Gesetze, welche Irrtümer rechtfertigen. Wer ihnen gehorcht, weil sie gerecht sind, gehorcht jener Gerechtigkeit, die er sich einbildet, nicht aber dem Wesen des Gesetzes [30]. Das Gesetz ist Selbstzweck, es ist Gesetz und nichts weiter. Wer seinen Entstehungsgrund untersuchen wollte, wird diesen so schwächlich und flatterhaft finden, daß er, wenn er nicht gewohnt ist, die Phänomene der menschlichen Einbildungskraft zu betrachten, erstaunt sein wird, daß ein Jahrhundert dem Gesetz so viel Ansehen und Ehrerbietung verschafft hat. Jene Kunst, die Staaten in Aufruhr zu versetzen und umzuwälzen, besteht darin, die eingebürgerten Sitten zu erschüttern, indem man sie bis zu ihrem Ursprung untersucht, um ihre fehlende Autorität und Gerechtigkeit [31] zu offenbaren. Man muß, pflegt man dann zu sagen, auf die grundlegenden und ursprünglichen Gesetze des Staates zurückgreifen, die ein unbilliges Gewohnheitsrecht abgeschafft hat [32]. Das ist ein Spiel, bei dem man mit Gewißheit alles verliert; nichts an dieser Rechnung wird aufgehen. Allein das Volk leiht derlei Reden gerne ein williges Ohr. Sie schütteln das Joch ab, sobald sie es erkennen, und die Mächtigen gewinnen am Niedergang des Volkes sowie am Niedergang jener neugierigen Aufdecker der bestehenden Gepflogenheiten [33]. Dies ist auch die Ursache, weshalb der scharfsinnigste aller Gesetzgeber einmal sagte, daß man die Menschen zu ihrem eigenen Besten häufig über den Löffel barbieren müsse [34]. Und ein anderer guter Staatsmann: Cum veritatem qua liberetur ignoret, expedit quod fallatur [35]. Er soll die Wahrheit der Usurpation nicht erkennen. Jene ist ehemals ohne Grundlage eingeführt worden, nun ist sie dem Menschen angemessen geworden. Man muß sie wie rechtsgültig und ewig aussehen lassen und ihren Ursprung verbergen, wenn man nicht will, daß sie ein baldiges Ende nehme.

 

95

 

Gerechtigkeit.

 

Wie der Zeitgeist das Vergnügen diktiert, diktiert er auch die Gerechtigkeit.

 

96

 

Wer die Freundschaft des Königs von England, des Königs von Polen oder der Königin von Schweden genossen hätte, hätte jener wohl geglaubt, daß es ihm in der Welt an einer Ruhstatt und einem Zufluchtsort fehlen könnte [36]?

 

97

 

Der Ruhm.

 

Die Bewunderung verdirbt alles von Kindheit an. O wie gut dies gesagt ist, o wie gut er jenes gemacht hat, wie gescheit er ist usw. Die Kinder von Port-Royal [37], die man keineswegs mit diesem Verlangen und Ruhm anspornt, verfallen dem gegenüber in Gleichgültigkeit.

 

98

 

Mein, dein.

 

„Dieses Hündchen gehört uns“, sagten jene armen Kinder.

„Das hier ist mein Platz an der Sonne.“ Darin bestehen der Anfang und das Abbild der Usurpation [38] der gesamten Erde.

 

99

 

Mannigfaltigkeit.

 

Die Theologie ist nur eine einzige Wissenschaft, doch wie viele Wissenschaften umfaßt sie nicht zugleich? Der Mensch wird als Substanz [39] vorausgesetzt, aber wenn wir ihn zergliedern, werden da nicht auch der Kopf, das Herz, der Magen, die Blutbahnen, jede einzelne Blutbahn, jeder einzelne Abschnitt der Blutbahn, das Blut selbst sowie jeder einzelne Körpersaft des Blutes sein?

Eine Stadt oder eine Landschaft aus der Ferne [40] sind eine Stadt und eine Landschaft, aber im selben Maße, als man sich nähert, sind da auch Häuser, Bäume, Ziegel, Blätter, Gräser, Ameisen, die Beine der Ameisen, bis ins Unendliche [des Mikrokosmos]. All das verbirgt sich gleichsam unter dem Begriff der Landschaft [41].

 

100

 

Ungerechtigkeit.

 

Es ist gefährlich, dem Volke zu sagen, daß die Gesetze nicht gerecht sind, denn es gehorcht ihnen nur, weil es sie für gerecht hält. Darum soll man ihm auch zugleich sagen, daß man sie befolgen müsse, weil sie Gesetze sind [42], wie man auch den Höhergestellten nicht etwa deshalb zu gehorchen hat, weil sie gerecht sind, sondern weil sie Vorgesetzte sind. Durch einen derartigen Schritt wird jeglichem Aufruhr vorgebeugt, wenn man dergleichen verständlich machen kann, und das ist recht eigentlich die Definition des Rechts.


 



[1] Siehe Fragment Nr. 32. Pascal hat die nämlichen Betrachtungen über Kleopatra vermutlich Corneilles Tragödie („Der Tod des Pompeius“, 1643) entlehnt.

[2] Montaigne, Aufsätze, I, 3, S 15: „Jene, welche die Leute beschuldigen, allenthalben verwundert den künftigen Dingen hinterherzulaufen und die uns lehren, uns doch der gegenwärtigen Güter zu bemächtigen und uns mit ihnen zufriedenzugeben, so, als ob keinerlei Gewinn aus dem Kommenden zu gewärtigen sei, ja sogar noch viel weniger, als dies in der Vergangenheit der Fall war, berühren den häufigsten aller menschlichen Fehler (...). Wir befinden uns niemals im Diesseits, sondern beständig im Jenseits. Die Furcht, die Wünsche, die Hoffnung treiben uns der Zukunft entgegen und berauben uns unseres Gefühles und unserer Betrachtung dessen, was ist, um uns abzulenken auf das, was sein wird, sogar dann, wenn wir selbst nicht mehr sein werden.“   

[3] Pascal schreibt an Fräulein von Roannez im Jänner des Jahres 1657: „Die Vergangenheit darf uns nicht peinlich berühren, weil wir ja nun einmal nichts weiter tun können als unsere Fehler zu bedauern. Aber die Zukunft sollte uns noch weniger berühren, da sie in überhaupt keiner Beziehung zu uns steht und wir vielleicht nie jemals dorthin gelangen werden. Die Gegenwart ist die einzige Zeit, an der wir wahrhaft teilhaben, und die wir Gott gemäß nützen müssen. Es ist die Gegenwart, wo unsere Gedanken erstlich verdienen, uns angerechnet zu werden. Die Welt indessen ist so rastlos, daß man beinahe nie an das gegenwärtige Leben und an den Augenblick, wo man lebt, denkt, sondern an jenen Augenblick, wo man leben wird, sodaß man sich beständig im Zustand befindet, nach der Zukunft zu leben, niemals aber im Zustand, hier und jetzt zu leben“ (Gesammelte Werke, III, S 1044). 

[4] Aufsätze, III, 13, S 1082: „ich habe einen zartfühlenden und leichten Geist, um mich emporzuschwingen; wenn er nur für sich beschäftigt ist, vernichtet ihn das mindeste Brummen einer Fliege.“ Wir haben in Fragment Nr. 56 gesehen, daß die Fliegen „unsere Seele zu handeln verhindern“.

[5] Im latinistischen Sinne: Deliberation, Resolution, Reflexion.

[6] „O höchst lächerlicher Held!“ Widmung an Scaramouche in einem buffontischen Thema (1657). Der italienische Possenreißer wird hier gleichsam als Patron der „Gelehrten“ in Anspruch genommen, weil ja deren Profession – nach der Art aller anderen – auch nur eine komische Rolle auf der großen Weltbühne vorstellt.

[7] Pascal bestreitet jene Reife Cäsars, welche Montaigne den letzteren über Alexander stellen ließ (siehe Aufsätze, II, 34, S 73).

[8] Durch dieses Beispiel will Pascal den herrschenden Widerspruch zwischen den soziopolitischen Systemen aufzeigen (in Frankreich sind es die Edelmänner, welche die Hegemonie besitzen – siehe Fragment Nr. 668) und folglich auf all diese den Argwohn der Willkür, nämlich der „Eitelkeit“, werfen.

[9] Entrüstete Reaktion der Dogmatiker, jener Philosophen, welche der menschlichen Vernunft das Vermögen, Gewißheit und Wahrheit zu erlangen, zusprechen, auf das pyrrhoneische Argument über den Schlaf: wenn wir also schlafen, halten wir die Vorspiegelungen unserer Träume für Wahrheiten, folglich verfügen wir über keinerlei Merkmal, den Zustand des Wachens von jenem des Schlafes zu unterscheiden (siehe Fragment Nr. 164). Im übrigen bezeichnet die Entrüstung in der Reaktion nicht deren Falschheit: „Wir wissen, daß wir keineswegs träumen, welches Unvermögen da nun immer sein mag, es kraft der Vernunft zu beweisen“ (Fragment Nr. 142).

[10] Dies war bereits die Reaktion Pascals im Gespräch mit M. de Sacy angesichts der Kritik über den Dogmatismus von Montaigne: „ich kann im Falle desselben Autors nicht ohne Vergnügen beobachten, wie die überlegene Vernunft so unbezwinglich durch ihre eigenen Waffen vernichtet wird“ (Edition P. Mengotti-Thouvenin und J. Mesnard, Paris, Desclée de Brouwer, Sammlung „Die Skizzenbücher DDB“, 1994, S 117-118). 

[11] Wenn wir über ein- und dieselbe Sache weinen und lachen ist der Titel eines Aufsatzes von Montaigne (I, 38). Siehe Fragment Nr. 551.

[12] Diese Metapher stammt vom Aufsatz Über die Unbeständigkeit unserer Handlungen (II, 1, S 334).

[13] Über die Originalität Pascals in der Analyse dieses Begriffes siehe Ph. Sellier, „Über die Tyrannei“, in „Justiz und Gewalt“. Politik in der Zeit von Pascal, Paris, Klincksieck, 1996, S 365-373.

[14] Ordnung: dieser Überbegriff im vorliegenden Werk von Pascal, wo er den technischen Verstand als qualitativ auf keine andere Art reduzierbar bestimmt, wird in Fragment Nr. 339 näher ausgeführt.

[15] Kategorien. Jener Begriff der Kammern bezeichnet im 17. Jhdt. namentlich die Gerichtsbarkeit der Domänen oder die der geteilten Zuständigkeitsbereiche (die Große Kammer, die Untersuchungskammer, Kammer der Tournelle usw.).

[16] „Macht“ und „Erkenntnis“ bezeichnen zweierlei „Reiche“ von verschiedener Art, wobei das eine über das andere keine Autorität beanspruchen kann, selbst wenn das letztere „von einem höheren Rang ist, umso mehr, als der Geist von einer höhern Ordnung ist als die Materie“ (Brief von Pascal an Eure Durchlaucht Königin von Schweden, Juni 1652, Gesammelte Werke, II, S 924).      

[17] Zu Lebzeiten Pascals (1623-1662) befanden sich Frankreich und Spanien von 1635 bis 1659 im Krieg.

[18] Wir werden also hier (einige) für den „Brief über die Ungerechtigkeit“ vorgesehene und in Fragment Nr. 43 angekündigte Themen vorfinden: die Gesetze, die sich den geographischen Bedingungen entsprechend verändern und die Staatsgrenze, welche die Mordtat rechtfertigt.

[19] Aufsätze, II, 12, S 578-579: „wenn wir das Gebot für unsere Sitten von uns selbst beziehen, in welche neuerliche Verwirrung stürzen wir uns! Denn was unsere Vernunft uns dabei als am naheliegendsten rät, ist im allgemeinen für jeden, den Gesetzen seines Landes zu gehorchen, wie es nach der sokratischen Auffassung, wie er sagt, von einem göttlichen Ratschluß eingegeben wird. Und was will die Vernunft damit anderes sagen, außer daß unsere Pflicht keine andere Regel besitzt als jene des Zufalls? Die Wahrheit muß ein entsprechendes und allumfassendes Äquivalent besitzen. Wenn der Mensch etwas der Rechtlichkeit und Gerechtigkeit Entsprechendes kennte, was Gestalt und ein wahhaftes Wesen besäße, würde er diese keineswegs von der Bedingung der Gewohnheiten dieser oder jener Gegend abhängig machen; und es wären nicht jene Vorstellungen der Perser oder der Inder, wovon die Tugend ihre Gestalt bekommen hätte.“ 

[20] Der Planet Saturn war am 12. August 1654 in das Sternbild des Löwen eingetreten. Siehe E. Labrousse, Der Eintritt des Saturn in den Löwen, La Haye, Nijhoff, 1974.

[21] Aufsätze, II, 12, S 579: „Es gibt kein Thema, das für eine beständigere Aufregung sorgt denn die Gesetze. (...) Bei uns hier habe ich etwelche Dinge, welche uns für Kapitalverbrechen galten, rechtmäßig werden sehen; und wir, die wir andere Dinge für rechtmäßig halten, laufen ebenfalls Gefahr, der Ungewißheit des launischen Schicksals ausgeliefert, uns eines Tages selbst als Frevler und Schänder unserer menschlichen und göttlichen Majestät angeklagt zu sehen, wenn unsere Gerechtigkeit der Ungerechtigkeit preisgegeben wird, und diese innerhalb weniger Jahre, in denen wir uns in deren Besitz befinden, ein widersätzliches Wesen annimmt. (...) Was ist das bloß für eine Güte, welche ich gestern noch im Flor stehen sah, die morgen schon nichts mehr gilt und welche die Breite eines Flusses zu einem Verbrechen stempelt? Und was ist das für eine Wahrheit, die, von diesen Bergen begrenzt, der Welt als Lüge gilt, aber jenseits davon als Wahrheit angesehen wird?“

[22] Ebdt. S 579-580: „Sie sind Toren, wenn sie, um den Gesetzen einen gewissen Grad an Sicherheit zu verleihen, behaupten, daß es überhaupt keine sicheren, beständigen und unveränderlichen Gesetze gäbe, wenn sie jene Gesetze als natürlich bezeichnen, die der menschlichen Art durch die Bedingung ihrer eigenen Wesenheit innewohnen. Denn aus einer so unendlichen Anzahl von Gesetzen läßt sich nicht wenigstens eines davon antreffen, dem es das Glück und die Zufälligkeit des Schicksals verstattet hätten, daß es durch die Zustimmung aller Völker allgemein gebilligt worden wäre.“

[23] Ebdt., S 580: „Ob Kindermord, Vatermord, Hurerei, Hehlerei, Freibrief für allerlei Arten von Vergnügungen – es gibt insgesamt nichts so Extremes, was im Dienste irgendeiner Nation nicht anerkannt worden wäre.“

[24] Indem er die Existenz der Naturgesetze, die in rechtlicher, wenn auch nicht in tatsächlicher Hinsicht allgemein sind, anerkennt, folgt Pascal der katholischen Tradition, welche in diesem Punkte insbesondere durch den Heiligen Thomas berühmt ist (Summa theologiae, Ia Iiae, Frage 91, Artikel 2 u. Frage 94). Siehe G. Ferreyrolles, Pascal und die politische Vernunft, Paris, PUF, 1984 (Kapitel IV: „Das Naturgesetz“) und „Das Naturgesetz in den Provinzialbriefen und den Betrachtungen“, in: „Das Recht hat seine Epochen“. Von Pascal an Domat (in Arbeit).

[25] Aufsätze, II, 12, S 580: „Es ist glaubhaft, daß es Naturgesetze gibt, wie man bei anderen Lebewesen unschwer erkennen kann; aber uns [Menschen] sind sie verloren, da sich jene hübsche, menschliche Vernunft allenthalben aufdrängt zu hofmeistern und zu befehlen, indem sie die Ansicht der Dinge gemäß ihrer Einbildung und Unbeständigkeit entzweit und verwirrt.“

[26] „Es bleibet nichts, was „unser“ ist: was wir „unser“ bezeichnen, ist nur eine künstliche Hervorbringung“ (Cicero, De finibus, V, 21; aus: Aufsätze, II, 12, S 580).

[27] „Es gibt Verbrechen, die aufgrund von Senatsbeschlüssen und Volksabstimmungen begangen werden“ (Seneca, Brief Nr. 95; aus: Aufsätze, III, 1, S 796). Dieses Zitat kommt ebenfalls in Fragment Nr. 675 und 796 vor.

[28] „Ehemals waren es Frevel, die wir erlitten, heute sind es die Gesetze“ (Tacitus, Annales, III, 25; aus: Aufsätze, III, 13, S 1066).

[29] Aufsätze, II, 12, S 580: „Protagoras und Ariston legten der Gerechtigkeit der Gesetze kein anderes Wesen bei als die Autorität und Meinung des Gesetzgebers; und bemerkten, daß, davon abgesehen, das Gute und die Tugendhaftigkeit ihre Ansprüche verloren hätten und mithin leere Begriffe von gleichgültigen Dingen blieben. Bei Platon meint Thrasimacos, daß es überhaupt kein anderes Recht gebe als die Gefälligkeit des Herrschers.“ Protagoras, Ariston und Thrasimacos vertreten gemeinsam die Ansicht, daß nichts an und für sich gerecht ist. Der erste (5. Jhdt. v. Chr.) ist ein Sophist, der Verfasser jenes bekannten Sprichwortes: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“; der zweite (3. Jhdt. v. Chr.) ein von der kynischen Lehre beeinflußter Stoiker; der dritte (5. Jhdt. v. Chr.) ein Redner, welchen Platon jene These verteidigen läßt, gemäß welcher „das Recht das dem Stärksten Nützliche ist“ (Der Staat, I, 344 c). Im 17. Jahrhundert behauptet Hobbes, daß „die rechtmäßigen Könige eine Sache gerecht oder ungerecht machen, indem sie diese befehlen oder indem sie dieselbe verbieten“ (De cive, 1642, 2. Buch, Kapitel 12).       

[30] Aufsätze, III, 13, S 1071-1072: „All dies läßt mich dessen gedenken (...) was die Kyrenäiker lehren, nämlich daß es keine Gerechtigkeit an und für sich gibt, sondern daß die Sitten und Gesetze die Gerechtigkeit ausmachen. (...) Die Gesetze erhalten sich im Flor, nicht etwa, weil sie gerecht sind, sondern weil sie Gesetze sind. Dies ist das geheimnisvolle Fundament ihrer Autorität (...). Es gibt nichts, was so erheblich und vollauf verfälscht wäre wie die Gesetze, und auch nichts, was als so üblich hingenommen wird. Jeder, der sie befolgt, weil sie gerecht sind, gehorcht ihnen billigerweise nicht, wodurch er dies tun sollte.“ 

[31] Aufsätze, II, 12, S 583: „Die Gesetze beziehen ihre Autorität von deren Besitz und deren Gebrauch; es ist gar gefährlich, auf den Ursprung ihres Entstehens hinzuweisen: sie wachsen und verfeinern sich laufend, gleich unseren Flüssen: folget ihnen flußaufwärts bis zu ihrem Ursprung, und sie sind nur ein kleiner, kaum erkennbarer Rinnsal, der nachgerade stolz anschwillt und sich mit seinem Fortlauf verbreitert. Seht die uralten Beweggründe, welche dieser gewaltigen Flut, voll von Würde, von Schrecken und Ehrerbietung, den ersten Anstoß gegeben haben: ihr werdet sie so geringfügig und so schwächlich finden ...“ (Vgl. I, 22, S 116-117). Mit Schrecken ist jene Empfindung der Achtung und der Ehrfurcht gemeint, welche das Heilige erweckt.

[32] Solchermaßen lautete jene Rede der abgeordneten Frondeurs im Jahre 1648. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts empfahl Machiavell einen solchen Kurs, den die französischen Parlamente bereits bei ihrem Widerstand gegen die „königlichen Satzungen“ erfolgreich ins Werk setzten“ (Abhandlung über die erste Dekade des Titus-Livius, III, 1). 

[33] Aufsätze, II, 12, S 439: „der Pöbel, (...) nachdem man ihm die Dreistigkeit an die Hand gegeben hat, jene Meinungen, für die er außerordentliche Ehrerbietung empfunden hatte, zu mißachten und zu überprüfen, (...) mag bald danach gar leicht und mit derselben Flatterhaftigkeit alle übrigen Bestandteile seines Vertrauens, die bei ihm weder mehr Autorität noch Grundlage hatten als jene, die man ihm erschüttert hat, über Bord werfen; und alle Eindrücke, die er kraft der Autorität der Gesetze oder der Ehrerbietung ihres uralten Gebrauches empfangen hatte, wie ein tyrannisches Joch von sich schütteln.“ Siehe ferner I, 23, S 119: „Jene, die einen Staat erschüttern, sind schlechterdings die Ersten, die durch dessen Ruin verzehrt werden.“

[34] Der „weiseste aller Gesetzgeber“ ist Platon: „Er stellt in seinem Werk Der Staat ohne Umschweife fest, daß man die Menschen zu ihrem eigenen Besten oftmals täuschen muß“ (Aufsätze, II, 12, S 512). Siehe Der Staat, V. Buch, 459 cd.

[35] Ungefähres Zitat des Heiligen Augustinus (Über den Gottesstaat, IV, 27), aus: Montaigne (Aufsätze, II, 12, S 535). Es stellt nach der Art einer Vorschrift dar, was in Wahrheit eine Schmähschrift des Heiligen Augustinus wider die antike, römische Religion und seine Würdenträger ist, welche die Nichtigkeit ihrer heidnischen Gottheiten erkennen, sich aber weigern, diese den Menschen zu offenbaren: „O glänzende Religion, das Schwache in der Suche nach dem Seelenheil anzunehmen! Da der Mensch also die befreiende Wahrheit verleugnet, muß man glauben, daß es ihm nützlich sei, getäuscht zu werden!“

[36] Karl I. von England wurde 1649 enthauptet; Johann Kasimir II von Polen ward innerhalb weniger Monate des Jahres 1656 von den Schweden seines Königreiches enteignet; Christine von Schweden hatte 1654 abgedankt. Die Abfassung dieses Fragmentes kann daher mit dem Jahre 1656, aber ebensowohl mit 1657 datiert werden (die Wiedereroberung Warschaus durch die Schweden erfolgte im Juli), möglicherweise sogar mit 1658 (wenn der „König von England“ Karl II. ist – und folglich im Exil – dessen Parteigänger auf den Befehl Cromwells im Juni und Juli hingerichtet wurden: Hypothese von M. Pol Ernst). 

[37] Die Kinder der „Kleinen Schulen“ von Port-Royal. Über dieses Thema siehe F. Delforge, Die Kleinen Schulen von Port-Royal, 1637-1660, Paris, Cerf, 1985.

[38] Jener Begriff der Usurpation bezeichnet ursprünglich nicht die Tatsache, sich mittels Gewalt oder List einer Sache zu bemächtigen, die einem anderen gehört, sondern jene Tatsache, durch den (herkömmlichen) Gebrauch (usu rapere: erraubtes Recht/ Gewohnheitsrecht) von einer Sache Besitz zu ergreifen, die niemandem gehört, d. h. von einer Sache Besitz zu ergreifen, die allen gehört. Lafuma zieht einen naheliegenden Vergleich mit der XIII. Homilie des Heiligen Chrysostomos: „Weil einige unter uns versuchen, sich an dem zu bereichern, was allen gehört, entzünden sich die Streitigkeiten und Kriege, als ob die Natur sich darob entrüstete, daß der Mensch, unter Zuhilfenahme jener nüchternen Parole: Mein, Dein, dort eine Teilung vorgenommen, wo Gott die Einheit gesetzt hat. Hierin liegt die Ursache der Uneinigkeit; hierin der Ursprung von tausenderlei Mißhelligkeiten.“

[39] In der scholastischen Philosophie begreift man die Substanz als Subjekt ihrer Attribute. Auf den Menschen angewandt, erkennt ihn dieser Begriff als Person, als eine substanzielle Einheit aus Seele und Körper. Die Verknüpfung des Begriffes durch Montaigne sowie das Namensverzeichnis des letzten Satzes des Fragmentes indessen verleiten dazu, die pascalsche Substanz auf das Suppositum von Ockham, auf ein Subjekt ohne Substanz, zu beziehen, dessen Einheit sich auf die Einheit seiner Bezeichnung reduziert (O. Boulnois, V. Carraud).  

[40] Siehe jenen Artikel von L. Marin: „Eine Stadt, eine Landschaft, von ferne ...“ Pascalsche Landschaften; Wiederauflage in Pascal und Port-Royal, Paris, PUF, 1997, S 196-213.

[41] Aufsätze, I, 46 (Über Namen), S 276: „Welche Mannigfaltigkeit an Kräutern da immer auch sein mag, alles verbirgt sich unter dem Namen „Kraut“.“

[42] Aufsätze, III, 13, S 1072: „die Gesetze erhalten sich nicht dadurch, weil sie gerecht sind, sondern eben weil sie Gesetze sind. (...) Wer auch immer ihnen gehorcht, weil sie gerecht sind, gehorcht ihnen billigerweise nicht, wodurch er dies tun sollte.“ Vgl. Fragment Nr. 94.



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