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Mein teurer Freund, 

Das Leid des Gerechten begründet sich unter anderem nicht wenig oft auf dem unerhörten Unverstande plebejischen Denkens. Deshalb scheint es durchaus geboten, die mannigfaltigsten Erscheinungen und Gestaltungen des Gemeinen, insbesondere der Heuchelei, noch näher auszuführen, zumal es nicht unbestritten bleiben darf, daß ein gemeines und niederes Wesen notwendig auch ein dafür bezeichnendes Handeln nach sich zieht und dergestalt dem Menschengeschlechte allgemein große Gefahren erwachsen. Es kommt nicht eben selten vor, daß die Menschen gar viel von ihren Tugenden schwatzen. Steht ein solcher nun im breiten Auge der Öffentlichkeit, so mag es kaum verwunderlich scheinen, daß jener bestrebt, sich so gut als nur irgend möglich zu repräsentieren, denn in den Augen der Masse für gut und würdig befunden zu werden ist das sehnlichst erhoffte Ziel eines fast jeden, welches ergo wiederum das Ziel der Masse konstituiert. Wie weit es allerdings desbezüglich mit der Tugend her ist, deren sich so manchereiner stolz berühmt, dem wollen wir hier noch eine kurze Prüfung widmen. Ich habe in einigen älteren Schriften so mancherlei zusammengetragen, welches ich sorgfältig niedergeschrieben und in einem kleinen Buche gesammelt habe. Da ich damit leider auf halbem Wege stehengeblieben, indem es mir gegenwärtig an dem rechten Mut fehlt, habe ich beschlossen, demselben einige Fragmente zu entlehnen, sodaß der günstige Leser vielleicht eher eine Vorstellung davon erhalten möge, wie sehr wir uns zuweilen mit gewissen Dingen abmühen. Mögen sie ferner dazu beitragen, daß der Leser ein getreueres Bild der hier behandelten, wir möchten sagen gewissermaßen exemplifizierten Problematik vorfinden möge.
Es begab sich nämlich einmal, daß ein gelehrter Mann in einem Gasthause saß und viel von der Weisheit der Alten erzählte. Da verstieg sich einer jener Zechbrüder, die rings um ihn hersaßen, zu behaupten, er (der Gelehrte) wolle ihm doch um alles in der Welt sagen, was jene großartig gekonnt hätten, welches er nicht gleichfalls zu vollbringen imstande wäre. „Siehe, Freund“, sprach jener, „aufgrund der Tatsache, daß du jeden Tag in diesem selben Gasthause verweilst und wohl alltäglich an die zehen Krüge Bier leerst, bist du freilich imstande, mich und alle übrigen in dieser Kunst zu übertreffen, mögen wir darin wohl wirklich nicht so viel Fertigkeit besitzen; wird dagegen nicht auch jener, welcher täglich unzählige Stunden über Büchern verbringt und allerlei Studien betreibt, mit Recht behaupten dürfen, er wisse mehr als jener, welcher sich die Zeit in Kaschemmen um die Ohren schlägt und in einem fort Krug auf Krug leersäuft? Und wozu, beim Himmel, bedarf es etwa größerer Fertigkeit: einen Krug Bier zu saufen oder, wo ihr nur wollt, die Metamorphosen des Ovid vom Lateinischen in eine andere fremde Sprache zu übertragen?“
Man kann sich leicht ausmalen, daß jener Zecher – obgleich dumpf an Verstand – doch licht genug war, zu begreifen, was der würdige Mann ihm mit derselben Parabel sagen wollte, und er ward damit auch stille, doch möchte ich fast behaupten – so wie du selbst, Freund, in deinem vorangegangenen Briefe bemerktest, daß kein Verdienst besessen ohne feindlichen Neid und daß jenen, welcher reich an Erkenntnis, der Verfolger Neid und Haß Zeit seines Lebens bestürmen werden – daß er in seinem weisen Ermahner einen stillen Vorwurf, eine ungewisse Bedrohung seines Lebens erahnt haben mochte.
Ein anderes Mal schwätzte ein Weib viel von ihrem anständigen und vernünftigen Leben und wie sie ihre Kinder doch ach so gut erziehe und ihnen niemals gestatte, dies oder jenes tun zu dürfen, da es eben ein Übel für sich wäre. Ein anderer aber, der die Frau in ihrer Jugend gekannt hatte und sehr wohl wußte, daß sie damals selber heimlich verübt, was sie sich jetzt ihren Kindern so überaus zu verbieten befliß, versetzte darauf, daß es ihr besser wäre, nicht so viel und so laut zu reden, da er trotz mancher Jahre, die unterdessen vergangen, gar mancherlei aus ihren Jugendtagen noch wüßte und er es durchaus vermeiden wolle, dasselbe hier vor allen erzählen zu müssen. Gar bald war dasselbe Frauenzimmer stille, doch jenen, welcher ihren neunmalklugen Auftritt vereitelt, ihn sah sie auf der Straße nimmermehr an. Auch hier scheint dasselbe Motiv dem heftigen Empören dagegen zum Grunde zu liegen.
Wieder ein anderes Mal, wie es bei aller möglichen Gelegenheit so häufig vorzukommen pflegt, tadelte ein Mensch in höchst unbesonnener Weise das Verhalten eines anderen, ohne sich vorher darüber zu beraten, ob er nicht etwa derselben Laster teilhaftig wäre. Da dies ein Dritter aber sehr gut wußte, versetzte jener gerade heraus: „Was maßest du dir nur an, einen anderen um dies- oder jenes willen zu tadeln, wenn du selbst nicht frei bist von jenem Fehl? Vielmehr geziemte es dir, vor deinem eigenen Tor zu kehren!“ Auch hier ist es wiederum müßig zu erwähnen, daß dieser Zurechtweisung kein Eingeständnis der Schuld folgte, als vielmehr ein verstocktes und feindseliges, seitwärtiges Beäugen jenes Vermaledeiten, der sich eines solchen Tadels erkühnte.
Noch ein anderes Mal traf es sich, daß ein weiser Mann seine Betrachtungen vor den Ohren mehrerer Leute auf das allerlebhafteste entwickelte, worauf jene meinten, daß er mit seinen Ansichten wohl recht habe.
„Eines aber werde ich nimmermehr verstehen“, entgegnete dieser, „weshalb nur gebt ihr mir heute recht und tut morgen doch wieder alles anders als das, was ihr heute für recht erfindet?“ Beschämt senkten die Belehrten die Köpfe, und wir dürfen es füglich bezweifeln, ob sie das Letztere eben so begierig waren, zu hören.
Du erahnst bereits gewiß, Freund, worum es mir in diesem nämlichen Briefe absonderlich zu tun ist: vorzustellen, wie schnöde und billig Menschen, die es sich zum Ziel gesetzt, andere durch vorbildliches Verhalten anzuregen und zu bessern, von jenen behandelt werden. Und hier drängt sich wohl auch die Frage darnach auf, weshalb man einer an sich so edlen Sache im Dienste der Menschheit mit einer derartigen Antipathie begegnen kann. Ja, es handelt sich im Grunde hier auch recht eigentlich um keine harmlosen Abneigungen und Aversionen, sondern einen wahrhaftigen Haß und Anfechtung gegenüber dem Besseren! Wie kommt es nun zu einer solch kontradiktorischen Verhaltensweise? Es liegt zweifellos in jedem menschlichen Naturell begründet, daß Fehler und menschliche Unzulänglichkeiten wohl begangen und besessen werden, man sie aber nicht gerne ansprechen hört, nicht von anderen und noch weniger von einem selber. So manchereiner würde sich eher die Zunge abbeißen, als sich einen von ihm begangenen Fehltritt vor anderen einzugestehen, und ist dergleichen nun ganz und gar unvermeidlich, so sucht man nach einer Unzahl von Ausflüchten und eitlen Beteuerungen, die einen vor dem anderen rechtfertigen sollen. Nur die edlere Seele ist dazu befähigt, an sich ja völlig natürliche Verfehlungen, so wie sie jeder einzelne von uns begeht, auch vor der Welt und ihren Menschen zu bekennen; ist das doch keineswegs eine Demütigung oder Erniedrigung, sondern eben das Großartige eines edlen Charakters! Uns so dürfen wir zweifelsohne darauf schließen, daß allem Anscheine nach nur große Charaktere Fehler begehen, während alle übrigen im erhabenen Gefühle ihrer Unfehlbarkeit vor den Mitmenschen thronen. Das Verkehrte jener Denkart zeigt sich ja schon alleine dadurch, daß man ja bekanntlich den Baum an seinen Früchten erkennt [1] , und demnach einem hellsichtigen Betrachter der Zeitverhältnisse keinesfalls ein x für ein u vormachen kann. Wir könnten hier freilich weiter noch irgendwelchen analytischen Spekulationen nachgehen, doch weit sinnvoller bedünkt es mich, dieses befremdliche Verhalten durch Synthese auf den Punkt zu bringen: es ist deshalb, weil jeder vor den andern als der Bessere gelten möchte und sich in der einfältigen Vorstellung wiegt, daß kein Höheres jemals die unsichtbaren Schandtaten zu Tage fördern vermöchte! Aufgrund des Vorhergehenden, das ich indes genugsam vorbereitet zu haben glaube, können wir behaupten, daß zu einem unbedingten Streben nach dem Vollbesitze menschlicher Tugenden nur dann angeregt werden kann, wenn man dieses Verlangen auch mit dem Bewußtsein dessen nährt, daß man seine Untugenden nicht glaubt, ungesehen von den Menschen üben zu können; denn der wahrhafte Moralist zielt ja auf die Übung derselben als Selbstzweck und zur Vervollkommnung seines geistigen wie seelischen Ichs ab und nicht, um zu gefallen, denn eitler Tand ist die Tugend, die nur um des eigenen Vorteiles willen gepflegt wird. Schon Seneca bemerkte irgendwo, daß er nie der Masse habe gefallen wollen [2], und auch der Evangelist lehrt uns, daß man seinen Lohn schon erhalten habe [3], wo die Ausübung von Tugenden nur zur Beförderung des eigenen, zumeist leiblichen Wohles zur Anwendung gebracht wird. Menschlich ist das Bestreben, sich besser geben zu wollen als man tatsächlich sein mag, töricht jedoch, sich auch nach offensichtlicher Schuld noch einem Eingeständnis und freien Bekenntnis zu widersetzen. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden [4], auch das stammt aus der Feder des Evangelisten. Nach all diesem könnte in der Tat nur eine sehr beschränkte Beurteilung zu der vollendeten Absurdität gelangen, daß es recht, vor allen, trotz besserer Erkenntnis, den Biedermann zu mimen oder gar jenen ins Unrecht setzen zu wollen, der einem den Spiegel seines eigenen Gewissens vorhält. Denn stets ist die Sünde des Tadels wert, entschuldbar jedoch dort, wo sie frei eingestanden und ein Bemühen um ihre künftige Vermeidung sichtbar wird. Infolgedessen dürfen wir auch behaupten – wie die genannten Beispiele sattsam gezeigt haben – daß jene nimmermehr als klug und besonnen gelten können, die einem gerechten Verweis eines Sünders – obgleich eines besseren – mit Verstocktheit und Ablehnung begegnen. Und wenn wir auch den Glauben an das Menschengeschlecht im allgemeinen nicht verlieren und es zwar nur billig scheint, ungeachtet solch detestabler Verhältnisse den Menschen als Menschen gelten lassen zu wollen, so kann und darf uns auch nicht zum Vorwurf gemacht werden, wenn wir die Masse – keiner will ihr zugehören, doch wo wäre sie dann, gehörte ihr keiner an – im unmittelbaren Angesichte der Untat und ihrer beständigen Verleugnung als pöbelhaft und ignorant bezeichnen. Denn der grobsinnlichste Bekenner seiner eigenen Indignität ist noch würdiger als jener, der seine Unfähigkeit zu Wahrheit und Erkenntnis beständig zu verbergen sucht, sogar unfähig, Unfähigkeit zu konfitieren. Vale!
 

[1]vgl. Mt 7,16-20; Mt 12,33; Lk 6,43-44
[2]Seneca, Epistulae morales XXIX, 10
[3]vgl. Mt 5,46-47; Lk 6,32-34
[4]vgl. dazu Mt 23,12; Lk 14,11



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