LESEPROBE
Aus: Thomas von Kienperg, Die Flammenjungfrau, Kapitel I
"Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen" (Ex 22,17)
PRIMAE PARTIS
Heute vor genau dreihundertundachtzig Jahren, vier Monaten und neunzehn Tagen erklangen allenthalben die Glocken der Stiftskirche Sankt Petri sowie der mächtigen Franziskanerkirche über den Dächern von Salzburg, auf welche die Feste Hohensalzburg mit ihrer dunklen Ringmauer herniederblickte. Weder entfiel dieser 21. September des Jahres 1625 auf einen hohen Festtag, noch mochte er anderer Ursache halber als ein Tag gelten, welcher ein sonstwie denkwürdiges Ereignis in der Chronik des Stadtschreibers bezeichnete. Vielmehr hielten düstere Gewitterwolken den Himmel verhüllt und entluden sich nun in einem heftigen Platzregen, der über die geduckten Häupter jener dichtgedrängten Menschenmenge hinfuhr, welche sich in die Torwege der rings um den Kapitelplatz gelegenen Häuser geflüchtet hatte und auf solche Weise, mit eingezogenen Köpfen, dem allzu lebhaft andringenden Unwetter zu entrinnen suchte. Durch einen steinernen Torbogen, durch welchen man in eine langgezogene Gasse blicken konnte, deren schmucke, spitzgiebelige Bürgerhäuser noch das Erbe vergangener Jahrhunderte waren, kam nun eine stattliche, mit vier Pferden bespannte Karosse vorgefahren, deren Räder auf den groben Pflastersteinen einen ziemlichen Lärm verursachten. Der Zug erhielt durch die Gegenwart mehrerer papageienfarben gekleideter Musketiere, die, teils mit Steinschloßgewehren, teils mit Hellebarden gewaffnet, rings um den Wagen herritten, ein martialisches Ansehen; einige der anwesenden Stadtpfeifer begannen sogleich die Trommeln zu rühren und in die Hörner zu blasen.
„Seht, die Commissarii kommen!“, hörte man einige der umstehenden Gaffer ausrufen; „seht, jene prächtige Kutsche dort, das müssen die Commissarii sein!“
Nur wenige Minuten waren vergangen, und die Karosse hielt mit lautem Gerassel vor dem Eingange zum Stiftshofe, vor dessen Toren bereits eine Gruppe empfangsbereiter Menschen zu warten schien. Kurz darauf entstiegen zwei Männer dem geöffneten Schlag des Wagens. Der erste war mittleren Alters und glich in seiner reichgestickten Hoftracht mit dem Degen einem fränkischen Edelmann; der zweite, ein Priester, schien von etwas minderem Alter und trug den weißen Ordenshabit der Dominikanermönche. Freiherr Hans Christoph von Preysing, jene Gestalt, welche die vornehme Erscheinung bezeichnete, begrüßte die wartende Gesellschaft, indem er einige flüchtige Redensarten leichthin in die Menge warf und alsdann mit theatralischer Geste befahl, man möge ihm unverzüglich einen Mantel reichen, ‚parce que ca pleut à pleins seaux‘; sein Begleiter, der Dominikanermönch Schranckhmayer, dem seine Geistesschärfe den Beinamen ‚doctor subtilis‘ eingebracht hatte, betrachtete die Versammlung der Chorherren, welche allesamt bereits fröstelnd vor den Toren standen, mit der ehernen Miene seines noch jugendlichen, gleichwohl strengen Antlitzes und tadelte sogleich mit lauter Stimme, weshalb der werte Archiepiscopus, Herr Graf von Lodron, es offenbar nicht der Mühe wert achte, in höchsteigener Person zum Empfang zu erscheinen. Man suchte den aufgebrachten Menschen zu beschwichtigen; seine Erlaucht, der Herr Erzbischof, fühle sich schon seit dem Morgen etwas unpäßlich – ein Umstand, der ihn darauf hoffen lasse, man möge seine Abwesenheit mit gnädigem Wohlwollen aufnehmen. Jene letzten Worte konnte der junge Sekretarius Heinrich Besenrieder eben noch vernehmen, als er aus dem Tor des angrenzenden Stiftes ins Freie trat und mitansah, wie der nun immer heftiger wütende Platzregen die neugierige Menschenmenge auseinandertrieb und das Ordenskleid des ehrwürdigen Gastes durchnäßte.
Der junge Schreiber, wie er sich angesichts des heftigen Regens fest in seinen Mantel hüllte und also die Gasse entlangschritt, schien in bemerkenswerter Eile befindlich. Er warf einen kurzen Blick zurück über die Schulter, hinauf zum Mönchsberge und nach der Festung, welche dem braven Manne bei dieser Gelegenheit wohl ähnlich erscheinen mochte wie jenem geistvollen Dichter, dem die mächtige Burg ‚einer steingewordenen Trireme‘ zu gleichen schien, ‚aus hellen Quadern gefügt, seit den Tagen der Römer festgeankert.‘ Diese oder wenigstens ähnliche Betrachtungen mochte er wohl angestellt haben, indem er weiter längs einer Gasse dahineilte, in der des üblen Wetters wegen ein unwirtliches Halbdunkel herrschte. Er bedachte weiter, wie er, Henricus Besenrieder, aus bescheidensten, bürgerlichen Verhältnissen stammend, es nachgerade vermochte, seiner ungewöhnlichen Begabung wegen die Protektion des Erzbischofs zu Salzburg, Herrn Paris Graf Lodrons, zu erlangen und die Lateinschule zu besuchen. Derselbe Umstand hatte notwendig zur Folge, daß der Bischof, kaum, da sein Zögling die Schule mit den besten Zensuren verlassen hatte, ihn auf die Universität entsandte, um ihn die Rechte studieren zu lassen. Wiederum mit den besten Zeugnissen versehen, kehrte der junge Studiosus von der Universität zurück und wurde als Schreiber im Scriptorium des erzbischöflichen Stiftes aufgenommen. So hatte er es denn auf mancherlei Weise verstanden, seine Laufbahn mit der ihm eigenen, strebsamen Wesensart voranzutreiben; die weltlichen ebenso wie die geistlichen Gelehrten hielten große Stücke auf den jungen Studiosus, der bei allerlei Gelegenheit seinen unermüdlichen Fleiß erkennen ließ, und man pflegte deshalb über ihn zu sagen, daß er es bei anhaltender Tüchtigkeit noch sehr weit in den Wissenschaften bringen könne.
In diesem seinem Denken und Dichten schien er kaum bemerkt zu haben, daß er, inzwischen trotz des Mantels reichlich durchnäßt, an die Tür eines stattlichen Hauses gelangt war. An die nämliche Türe pochte er nun zwei, drei Mal unter Zuhilfenahme eines kolossalen, in der Gestalt des römischen Gottes Merkur gefertigten Türklopfers, ehe sich dieselbe ihm öffnete und ein sorgfältig befrackter Diener ihn sogleich in ein im Obergeschoß desselben Hauses befindliches Zimmer geleitete. In dem Zimmer angelangt, fiel sein Blick sogleich unverwandt auf ein junges, liebliches Mägdlein mit stillen, dunklen Augen und braunen Locken, welche gar anmutig auf die Schultern und den keuschen Lilienbusen herniederwallten. Sie hielt, in einem Lehnstuhl ruhend, ein in Leder gebundenes Buch mit Goldschnitt in ihrem Schoße aufgeschlagen, aus dem sie sogleich aufblickte, sowie sie des Ankömmlings gewahrte. Sie erhob sich, um den, wie es schien, unverhofften Gast in gebührender Weise zu empfangen und reichte ihm beide Hände, welche er sogleich schüchtern ergriff.
„Ich hoffe sehr“, so begann jener, „ich hoffe sehr, Euch durch mein unangemeldetes, und, wie ich nun leider zu Recht befürchten muß, unerwünschtes Erscheinen nicht in Euerer Lektüre gestört zu haben, liebes Fräulein!“
„Seid unbesorgt, Monseigneur“, entgegnete das Fräulein daraufhin unbefangen, „seid völlig unbesorgt! ich stand ohnehin soeben im Begriffe, meine Nachmittagslektüre zu beenden! Aber Monseigneur“, so fuhr sie nun gleichsam erschrocken fort, „aber Monseigneur, ihr seid ja naß bis auf die Knochen! Kommt sogleich, Baptiste soll Euch nach nebenan führen, damit Ihr Eure Kleider wieder instand setzen könnt!“
Mit diesen Worten rief sie denselben Diener herbei, welcher den Sekretarius vorhin eingelassen, und ließ es ihm angelegen sein, sich des durchnäßten Gastes anzunehmen.
„Ach, es ist indessen kaum halb so schlimm, als es scheinen will“, versetzte jener mit einem Seitenblick auf des Fräuleins Buch, welches es angelegentlich seines Eintretens auf ein zierlich gefertigtes Holztischchen gelegt hatte; „doch sagt, was lest Ihr? Ei, Chrétien de Troies‘ ‚Romans d’Artus‘ – ein Meisterwerk ritterlich-höfischer Dichtkunst, was meint Ihr davon, allerwertestes Fräulein?“
„Gewiß, Monseigneur, in der Tat ein Meisterstück, jene Dichtung, wenn Ihr mir ein dergleichen Urteil zugestehen wollt – doch sagt, habt Ihr jenes vortreffliche Buch denn jemals gelesen?“
„Allerdings“, versetzte der junge Mensch daraufhin, „allerdings habe ich dies vortreffliche Buch am Anfange meiner Studienzeit gelesen – ich war damals heilfroh, daß ich zwischen den lateinischen Exerzitien und dem corpus juris zuweilen etwas Zeit übrig hatte, mich an der Poesie zu ergötzen – und da ist mir denn dasselbe Buch in meines Meisters Bibliothek einmal ganz unverhofft zwischen die Finger geraten – ich habe mir beim anschließenden Lesen nächtlicherweile mit der Öllampe unter der Bettdecke fast die Augen verdorben; ich mußt‘ es übrigens im Original lesen, so gut es eben gehen wollte, und da hab‘ ich denn wohl so nebenher noch die altfranzösische Sprache kennengelernt – weniger aus freiem Willen freilich, da es ja vielmehr die Notwendigkeit gebot!“
Im selben Augenblick erschien Baptiste, der dem Gaste einen trockenen Umhang reichte, den sich dieser sogleich überwarf. Die Jungfer Margarethe Périer – denn dies war der Name des holden Fräuleins – hieß ihn mit freundlicher Geste, sich auf einen der lederbezogenen Stühle, die, zusammen mit einer ebenfalls mit teurem Leder bezogenen Ottomane rings um einen kostbar geschnitzten Tisch herstanden, niederzulassen. Es währte nicht gar lange, da hatte der dienstfertige Baptiste auf des Fräuleins Befehl Punsch bereitet und stellte, zu des Schreibers Ergötzen, ein dampfendes Glas des edlen Getränks vor ihn auf den Tisch.
„Ich danke Euch, allerliebstes Fräulein“, so sprach er, indem der dankbare Blick seiner Augen mit warmer Inbrunst auf der holden Gestalt der um sein Wohl geschäftigen Gönnerin ruhte, „ich danke Euch – wahrhaft, mein Fräulein, ich halte die Fürsorge, mit der Ihr Euch um Eueren unwürdigen Gast bemüht, für unverdiente Milde“ – er hielt lächelnd inne und tat einen Trunk, ohne indessen sein Auge von der Jungfer zu verwenden. Das Fräulein wandte ihm mit holder Miene ihr Antlitz zu.
Margarethe war die einzige Tochter des angesehenen Kaufmannes Auguste Périer, der, sein Weib war früh dahingeschieden, sich vor einigen Jahren in der Getreidegasse – jenem Teile der Stadt, wo die vornehmsten Bürger und Kaufleute wohnten – gleich vielen anderen seiner Zunft, angesiedelt hatte. Der alte Périer hatte in jener Zeit, da man begonnen hatte, den Hugenotten in Frankreich auf allerlei Weise nachzustellen, kurz nach jenen entsetzlichen Ereignissen, welche der Bartholomäusnacht gefolgt waren, noch als ein Jüngling das heimatliche Paris verlassen und war zusammen mit den Eltern nach Preußen geflüchtet. Dort hatte er nach dem Tode der Eltern mit einem Kauffahrteischiff, das er mit tüchtigem Fleiße zu erwerben gewußt, an mancherlei Wagefahrten in die Levante teilgenommen und nach einigen Jahren ein nicht unbeträchtliches Vermögen gewonnen. Dort, in der neuen preußischen Heimat, war es dann auch geschehen, daß er sich eines Tages in ein hübsches Mädchen verliebt hatte; das Schicksal wollte es, daß sich die Geliebte ganz ihrem katholischen Glauben verbunden fühlte. So geschah es zuletzt, daß er, der aus denselben Gründen aus der Heimat geflohen war, sich um ihretwillen zum katholischen Glauben bekannte, welches ihm um mancher Ursache willen nicht allzu schwer fiel – als Kaufmann war er in vieler Herren Länder gewesen und hatte allerlei Religionen kennengelernt; sein praktischer Verstand sagte ihm, daß es nicht sowohl darauf ankommen mochte, welcher Konfession man angehöre, sondern auf welche Art jemand sein Leben einzurichten verstehe. Er schien damit recht zu behalten: das junge Eheglück ward alsobald durch die Geburt eines jungen Mägdeleins gesegnet, welches auf den Namen Margaretha getauft wurde.
Schon bald aber begann die feindliche Zwietracht innerhalb der römischen Kirche auch die deutschen Lande heimzusuchen. Als man jene unerhörte Tat vernommen, welche zu Prag in der Kaiserburg geschehen, war Kaiser Ferdinand mit unerbittlicher Strenge wider die böhmischen Insurgenten zu Felde gezogen. Nach der Schlacht am Weißen Berge, bei welch nämlicher Gelegenheit die katholische Liga einen entscheidenden Sieg gegen die Protestanten Böhmens erfocht, schien die katholische Hegemonie im Reiche wiederhergestellt. Dennoch ging allenthalben ein Aufschrei der Entrüstung durch das Reich; weder konnte noch wollte man sich in den Dünkel der katholischen Partei schicken, und so geschah es, daß die protestantischen Fürsten Deutschlands nun ihrerseits eine Allianz, die sogenannte Union, begründeten. Dieses Ereignis bezeichnete den Anfang eines Krieges, der dreißig Jahre lang Europa beherrschen, Ländereien verwüsten, Städte entvölkern würde; durch denselben Umstand veranlaßt, hatte Périer inmitten jener Kriegswirren einen Brief von einem Freunde erhalten, der sich, ebenfalls Kaufmann, vor einiger Zeit in Salzburg niedergelassen hatte! Jener Freund hatte ihm vorgestellt, wie die Menschen zu Salzburg, während draußen im Reiche allenthalben der Krieg tobte, gleichwohl gute Zeiten hätten; wie der edle Bischof zu Salzburg, Herr Paris Graf Lodron, seinem Lande ein vortrefflicher und milder Fürst wäre; wie reichlich Salz und Gold in den Bergen rings um die Salzburg gefördert würden und Handel und Wirtschaft im blühendsten Flor stünden; wie der edle Herr Erzbischof, obgleich vom mächtigen Bayer hart bedrängt, sich allgemach weigere, der katholischen Liga beizutreten; wie er überhaupt stets nur das Wohl seines kleinen Landes im Auge gehabt und nun allerwärts bestrebt wäre, es nicht der Unbill des Krieges preiszugeben. Jener Brief hatte in Périer den sehnlichsten Wunsch entzündet, sich als Kaufmann in Salzburg niederzulassen. Damals hatte es sich auch begeben, daß sein Weib, schon längere Zeit von einer bösartigen Krankheit befallen, zuletzt dahingeschieden war. Dies hatte zur Folge, daß er sich noch enger an die über alles geliebte Tochter – die einzige Person, die ihm nun aus dem Kreise seiner Familie verblieben war – schloß, deren Erziehung, da er selbst sich häufig auf Reisen befand, eine Muhme besorgte. Dessenungeachtet hatte er, Périer, nur wenige Wochen später, mit beachtlichen Besitztümern versehen, samt seiner kleinen Tochter die beschwerliche Reise durch das Reich angetreten. Und in der Tat war ihm die Stadt, kaum, da er sie betreten, wie eine Oase des Friedens erschienen; keine Söldner lungerten auf den Straßen herum, wie man dergleichen in anderen Städten des Reiches überall zu sehen gewohnt war – auch gewahrte man sonst nirgendwo eine Spur des Krieges, obzwar ein aufmerksamer Betrachter doch zuletzt bemerken mußte, daß die Stadtmauern und Basteien allesamt stark befestigt waren und beständig auf Abwehr bedacht schienen. Mit den reichlichsten Mitteln ausgestattet, die ihm zu Gebote standen, erwarb sich Périer alsbald ein stattliches Bürgerhaus in der Getreidegasse, in welcher sich der Großteil des geschäftlichen Stadtlebens zutrug. Bald hatte er, der mehrere Geschäftsfreunde in der Stadt besaß, die ihm sogleich ihre Hilfe anboten, sooft immer er ihrer bedurfte, sich vorzüglich eingelebt, und durch die ihm eigene Tüchtigkeit konnte es nicht fehlen, daß er sich an der neuen Stätte seines Wirkens bald großes Ansehen erwarb. Er galt als treu, klug und zuverlässig in geschäftlichen Dingen, und so kam es, daß sich bald alle, so in der Stadt Rang und Namen besaßen, zu seinen treuen Kunden zählten. Er verstand sich darauf, die Ware wohlfeil zu erwerben und auch zu einem geringen Preise feilzubieten, was ihm die Gunst und das Wohlwollen seiner Kundschaften eintrug; so war es bald an dem, daß Périer allenthalben angesehen und geachtet ward und in Margarethens Wunsch, in den schönen Künsten unterrichtet zu werden, einwilligte. Zwar war es stets des Vaters Wunsch gewesen, sie möge sich zu einer tüchtigen Hausfrau heranbilden, welche sich auch auf die Geschäfte im Kontor seines Handelshauses verstünde; allein das stille Wesen, welches dem schüchternen Kinde schon seit jeher eigen schien, ihr Hang zu Büchern und zur Poesie ließen gar bald erkennen, daß es mit dem frommen Wunsche des Vaters nun einmal ganz und gar nichts werden wollte. Und da die Tochter, seit ihm der Tod das geliebte Eheweib von der Seite gerissen, seine einzige Liebe, ja sein Abgott war, und er sich recht lebhaft vorstellte, wie das Kind den rechten Lebenstrost nur in den Künsten finden könne und er bedachte, daß seine Tochter schon von der Wiege auf nichts anderes im Sinne gehabt denn beständig in Büchern zu blättern, kam es, daß der Alte, der bei aller Bestimmtheit in Angelegenheiten des Geschäftes weiß Gott kein Tyrann im Hause war, dem sehnlichen Verlangen seiner Tochter stattgab; dessenunerachtet nährte er doch den heimlichen Wunsch, es möge sich zu rechter Zeit ein Freier einfinden, der, zusammen mit der Hand der Tochter, auch den blühenden Handel seiner Geschäfte zu übernehmen gedachte.
Indessen die ehrgeizigen Pläne des Vaters schienen sich nicht zu erfüllen. Als Margarethe im vergangenen Frühling sich mit mehreren Freundinnen auf der Nonntaler Wiese, vor den Mauern der Stadt, zum fröhlichen Maitanze eingefunden, war mit einemmal ein junger, unbekannter Mann vor ihr gestanden und hatte für sich die Gunst eines Tanzes erbeten; und wenn sie der junge Mensch auch seiner zierlichen Erscheinung wegen und, sintemalen mit der Brille auf der Nase, nicht eben als einer jener niedlichen Jünglinge aus Amors Tempel bedünkte, fand sie dennoch Gefallen an dem gebildeten und klugen Ausdrucke seines Gesichts und verweigerte ihm seine artig vorgetragene Bitte nicht. Nach dem Tanze, welchem an jedem Maien ein ausgelassenes Fest folgte, bei dem jegliche Art von Distinktion aufgehoben schien, es wohl auch zuweilen vorkommen mochte, daß der würdige Ratsherr sich mit der hübschen Bauerstochter schwang – hatte der junge Gelehrte, der er zu sein schien, sie endlich gefragt, ob sie es sich wohl gefallen lassen möchte, wo er sie zu einem Glase Wein einlüde. Sie hatte schließlich eingewilligt und konnte bei vorfallender Gelegenheit feststellen, daß der junge Mann außerordentliche Kenntnisse in den Wissenschaften und Künsten besaß. Gar bald hatten sie ein Gespräch angeknüpft, welches nichts anderes denn die schönen Künste zum Gegenstande hatte, sodaß sie sich’s schier versahen, wie die Zeit doch so schnell vergangen war. Beim Abschiede hatte Besenrieder – denn er war es – Margarethen gebeten, ob es ihr wohl mißfallen möchte, wo er sie einmal besuchen käme – des Abends, denn untertages habe er gewöhnlich allerlei Geschäfte zu besorgen, welche ein Vorhaben dieser Art wohl kaum gestatten dürften. Sie hatte bejaht – und so war es denn zuletzt gekommen, daß der Sekretarius der hübschen, jungen Dame bei allerlei sich bietender Gelegenheit seine Aufwartung machte – welches er denn gewöhnlich durch ein Billet ankündigen ließ.
Diesmal hatten die Umstände jenen ansonsten durchaus üblichen Actus der Höflichkeit offenbar nicht gestattet. Besenrieder saß, das dampfende Glas Punsch zwischen beiden Händen, auf dem ihm zuvor angewiesenen Stuhl und suchte, zumal unterdessen auch der alte Périer das vornehm eingerichtete Zimmer betreten hatte, ein Gespräch anzuknüpfen; allein die Dinge, welche er vorzubringen bemüht war, waren so verworren und unbedeutend, daß der Alte irgendwann einfiel: „Nanu, mein guter Junge! das wirre Zeug, welches Ihr da zusammenschwatzt, klingt ja geradeso, als wäret ihr Hals über Kopf aus Euerer Schreibstube davongelaufen!“
Dem Alten konnten die häufigen Besuche des jungen Schreibers kaum entgehen; um derselben Ursache willen hatte er, der es für gewöhnlich nicht ungerne sah, wenn derselbe sich zu einem seiner Besuche einfand, es sich zu einem Grundsatze gemacht, daß diese Besuche unter gelegentlichen Auspizien seinerseits stattzufinden pflegten; und war er auch der festesten Überzeugung, daß seine Tochter eine gar verständige, junge Dame und der Schreiber ein wohlerzogener, junger Mann war, so schien es ihm dennoch keineswegs geraten, die Kontrolle ganz und gar aus der Hand zu geben. Zwei poetische Gemüter schienen, um mit seinem praktisch geschulten Verstande zu urteilen, nun denn doch einer gelegentlichen Aufsicht zu bedürfen.
Bestürzt hatte Besenrieder bei den Worten ihres Vaters innegehalten und blickte nun mit einer Art von Verlegenheit nach Margarethen hin.
„Das bin ich in der Tat, gnädigster Herr, wo Ihr nur erlauben mögt“, versetzte er schließlich, „ich habe dringende Geschäfte vorgeschützt und konnte so das Scriptorium unbehelligt verlassen; dies war auch, mein allerwertestes Fräulein, die Ursache, deretwegen ich Euch vorhin bat, mir die Unhöflichkeit, diesen meinen Besuch nicht angekündigt zu haben, zu verzeihen!“
„Schon recht“, versetzte Margarethe. „Was um alle Welt hat Euch nun dazu veranlaßt, so gar schnell über Eueren Geschäften davonzulaufen?“
Der Alte hatte indessen den Diener herbeigewunken und diesem geboten, noch ein Glas Punsch aufzusetzen. Sodann ließ er sich gemächlich auf die Ottomane nieder und schien in gespannter Erwartung dem Berichte des Schreibers zu harren.
„Ich hatte“, so hub derselbe an, „ich hatte soeben eine Abschrift jenes Briefes angefertigt, der für eine wichtige Mission zur Vermittelung mit Herzog Maximilian von Bayern bestimmt ist. Der Herr fühlte sich – in Ansehung gewisser Umstände – schon seit dem frühesten Morgen außerstande, seinen Pflichten zu obliegen, und hatte aus demselben Grunde den Magister Krautendey, unsern Stiftsphysikus, zu sich in die Gemächer beordert, um ihm eine heilsame Arzenei zu bereiten. Wie ich eben den Streusand aus der Büchse langsam über das Papier siebe, horch da! vernehme ich mit einemmal, wie sie die Glocken läuten lassen und gleich darauf die Pfeifer draußen auf dem Kapitelplatz. Ich denk‘ mir noch, welch ein ungehöriger Lärm mitten am hellsten Nachmittage – ich stecke meinen Kopf zum Fenster hinaus – und was sehe ich?“ Er griff zum Punschglase und stieß einen tiefen Seufzer aus.
„Nun – was habt Ihr gesehen?“ frug Margarethe, allem Anscheine nach mit beständig wachsender Neugierde.
„Wohlan“, fuhr der Schreiber fort, „ich sah einen Wagen – eine Kutsche durch die Bürgergasse einherfahren, und viel Volk befand sich, des unwirtlichen Wetters ungeachtet, auf dem Platze. Vor dem Stiftstore gewahrte ich sogleich einige unserer frommen Patres, mit gesenkten Köpfen dem Regen trotzend – und dann stiegen zwei Männer aus dem Schlag: der erste vornehm und reich, nach höfischer Sitte gekleidet in Gewänder von brabantischer Seide, der zweite ein noch junger Mensch im Ordenskleid der Dominikaner –„
„Könnte es etwa sein“, fiel Périer ein, „kurz, könnte es etwa sein, daß ... Ihr habt uns doch, Monseigneur, vor einiger Zeit von jener Besorgnis Eures Bischofs berichtet, daß der Kaiser –„
„Daß der Kaiser unserm getreuen Stifte eine Kommission von Köllen her zu schicken beabsichtigt, welche die hiesigen Verhältnisse untersuchen soll?“ versetzte Besenrieder. „Nun, dies ist hiermit eingetroffen – die beiden mit dieser Mission beauftragten Commissarii sind vor einer halben Stunde mit jener selben Kutsche angelangt – und ich denke wahrhaft, es möchte kaum etwas Gutes dabei herauskommen! Erst jetzt fiel mir so recht lebhaft jene fieberhafte Unruhe aufs Herz, welche ich bei unseren guten Chorherren schon seit den frühen Morgenstunden bemerkt zu haben wähnte ...“
Eine allgemeine Pause entstand, welche Baptiste benützte, eine dampfende Schale Punsch auf den Tisch zu stellen, um sich allsogleich wieder stillschweigend zu entfernen.
„Unser gnädiger Herr“, fuhr der Schreiber nun in lebhafter Erregung fort, „unser gnädiger Herr, der, wie alle Welt bezeugen wird, ein Fürst ist, wie man sich einen solchen immer nur wünschen mag – unser gnädiger Herr, sage ich, hat es offenbar zu gut mit den Protestanten gemeint ... Ihr wisset ja, mein Herr“ – er wandte sich bedeutungsvoll an Périer – „Ihr wisset ja, daß er auch jenen stets milde gegenüberstand, welche nicht unseren Glauben teilen!“
„In der Tat“, versetzte der Alte, „in der Tat hat das Land in Euerem gnädigen Herrn Bischof einen Fürsten, den zu rühmen das Volk genugsam Ursache haben wird – denn wann, so frage ich, hätte man jemals von ihm gehört, daß er, wie es im übrigen Reiche wohl allenthalben geschieht, die Protestanten kujonierte oder sich in die Händel der Reichsstände gemischt hätte – genug! und wenn man ihm nun die Commissarii auf den Hals gehetzt hat, so kann dergleichen nur auf Betreiben des Kaisers geschehen sein!“
„Es ist nun“, fuhr der Schreiber fort, „es ist nun an dem, daß es eine Untersuchung geben wird – eine Untersuchung darüber geben wird, wie es möglich war, daß hierzulande weder Hexen verbronnen noch Protestanten außer Landes geschafft werden; stellt euch nur einmal vor, mein Herr“, fuhr er in beinahe weinerlichem Tone fort, „stellt euch nur vor, die katholischen Landstände verlangen nun von unserm gütigen Fürsten, daß er es ebenso treibe, wie man dergleichen im übrigen Reiche wohl allenthalben gewohnt ist – es hat den Kaiser, und wohl auch den Bayer mächtig verdrossen, daß er sich niemals erbötig gezeigt, sich den Ligisten anzuschließen!“
Margarethe, welche bislang in stiller Aufmerksamkeit den Worten Besenrieders gelauscht, stieß mit einemmal einen geräuschvollen Seufzer aus und barg das Gesicht zwischen den Händen. Der Schreiber, den plötzlichen Wandel im Gebaren des Mädchens bemerkend, blickte mit sorgenvoller Miene auf.
„Wie ist Euch, bestes Fräulein? Fühlt Ihr Euch etwa nicht wohl, meine Liebe?“
„Ach, nichts von Bedeutung“, versetzte sie; „dies viele Lesen strengt mich wohl zuweilen etwas an, was denn die gelegentlichen Kopfschmerzen verursachen mag!“
Der alte Périer hatte unterdessen die kristallene Karaffe vom Tische genommen, in welcher behaglich der Punsch dampfte, und, die Gläser des Schreibers wie Margarethens aufs neue füllend, wandte er sich abermals an den ersteren: „Es ist wahrlich ein Unglück, mein Herr, daß man die Milde und Friedfertigkeit unseres Fürsten nun auf solch schändliche Weise vergilt!“
„Ich denke“, nahm der Schreiber nun das Gespräch wieder auf, „ich denke, daß hinter alledem des Bayers heimliche Rancune stecken mag, welcher dem Betreiben des Kaisers – Gott schütze ihn! – in allem Vorschub geleistet hat! Ach, wenn unsere braven Landsleute nur wüßten, wie sehr unser guter Herr Fürst sich abmüht, uns den Frieden im Lande zu erhalten – wie sie ihm in der Liga allgemach zusetzen, er fort und fort blanke Gulden und Fähnlein um Fähnlein zusetzt und es doch immer noch zu wenig ist ... ach, guter Herr, es weiß hier wohl niemand recht, wie teuer uns dieser Friede allesamt zu stehen kömmt!“
Da der Alte gewahrte, wie gar innig der junge Schreiber seinen Anteil am Geschicke seines Herren zu nehmen schien, versetzte er: „Ja, Monseigneur, üble Zeiten allenthalben im Reiche; wer nicht für sie ist, der ist gegen sie, und wer nicht mit ihnen sammelt, der zerstreut! und die Unierten suchen nun bei jeder Gelegenheit, den Streit noch zu schüren!“
Besenrieder hatte sich unterdessen erhoben und war an das Fenster getreten, vor dessen Scheiben es allmählich zu dunkeln begann. Indem er dergestalt ein Weilchen auf die Gasse niedergeblickt, begann er zuletzt unruhig in dem Raume auf- und niederzuschreiten.
„Ihr macht heute einen solch verworrenen Eindruck auf mich!“, sagte das Fräulein schließlich, eine Öllampe anfachend, welche inmitten des Tisches stand. Im wechselnden Lichte, welches allsogleich den Raum zu erhellen begann, hatte der Schreiber zuletzt vor einem prächtigen Repositorium, das, mit unzähligen Büchern aller Art assortiert, die Zierde des Raumes vorstellte, innegehalten. Mit einemmal griff er mit raschen Händen nach einem Buche und wandte sich nun wieder Vater und Tochter zu, welche sein wunderliches Tun mit wachsendem Erstaunen beobachtet hatten.
„Woher, werter Monseigneur, habt Ihr dies Buch?“ frug er nun, indem er es vor dem verwunderten Alten auf den Tisch legte.
„Mein Vater brachte es aus Frankreich mit“, versetzte jener erstaunt. „Er war ein höchst gebildeter Mann, und die meisten jener Bücher, welche Ihr hier seht, sind ein Erbe meines Vaters!“
„So habt Ihr es denn niemals gelesen?“ fuhr der junge Schreiber fort, indem er Margarethe auf eine wunderliche Weise anzublicken schien.
„Nein, niemals!“, entgegnete jene an ihres Vaters statt. „Ihr sehet wohl, mein Vater freilich wird nur allzusehr von seinen Geschäften in Anspruch genommen, welche ihm nur geringe Zeit für derlei Dinge verstatten – nun, und ich selbst, wie ihr wißt, pflege jene Zeit, welche nicht den Künsten geweiht sind, mit den notwendigen, häuslichen Geschäften hinzubringen, sodaß ich recht eigentlich nur der Erbauung halber lese ... aber sagt, weshalb fragt Ihr so gar wunderlich?“
„Dies hier ist des Bodinus Buch, ‚De la demonomanie des sorciers‘, ein Buch, das es an dogmatischer Starrheit dem ‚Formicarius‘ des Johannes Niders oder dem verruchten Werke des Nikolaus Remigius gleichtut – o verfluchtes Geschick! Gott weiß, wie Euer weiland Vater in den Besitz dieses verhängnisvollen Buches gekommen sein mag!“
„Ich interessierte mich kaum für meines Vaters Liebhabereien“, versetzte Périer, „und angesichts meiner zahlreichen Geschäfte wird es Euch nur wenig überraschen, wenn ich Euch gestehe, daß ich kaum eines jener Bücher, welche ihr dort seht, jemals gelesen habe!“
„Ich hatte die seltene Gelegenheit“, begann nun der Schreiber, „dies Buch – ein Feld, welches gewöhnlich nur unsere Theologen bestellen – während meiner Studien zur Jurisprudenz kennenzulernen; es sind dies dieselben Dinge, wie sie ein Remigius oder Binsfeld vorgestellt haben, und die letzten Tage habe ich zuweilen wieder an dergleichen denken müssen – welch wunderliche Fügung, daß mir nun gerade dieses unheilvolle Buch in Euerm geschätzten Hause, Monseigneur, auf so ganz und gar unverhoffte Weise wieder begegnet –„
„Was hat das verfluchte Buch nun mit der ganzen Geschichte zu tun?“ versetzte der Alte nun, wie es scheinen wollte, mit einer leichten Regung des Unwillens.
„Mit den Commissarii hat es indes noch eine andere Bewandtnis“, fuhr der Gast nun weiter in seinen Ausführungen fort, „und obgleich ich über ihre Mission im einzelnen nur höchst mangelhaft unterrichtet bin, so glaube ich doch aus mancherlei Gesprächen unserer Herren erfahren zu haben, sie seien auch gekommen, um dem heimlichen Hexenunwesen, wie es in unserem Lande allenthalben getrieben werden soll, zu steuern – in jedem Falle war dies nächst den Protestanten jener Gegenstand, welcher unsere Herren vorzüglich zu beschäftigen schien – und, soweit es mich angeht, bin ich der festen Überzeugung, daß wir hier einiges an Ärgernis zu verhoffen haben! Indes ist es, mein wertes Fräulein, keineswegs meine Absicht, Euch näher mit dem Inhalte desselben Buches vertraut zu machen – doch mit aller Rücksicht auf jene Besorgnis, wie sie bereits während der letzten Tage allenthalben im Stifte fühlbar ward – ich konnte mich nicht enthalten, Euch dies wissen zu lassen, meine liebenswerte familiam – damit Ihr nicht überrascht sein mögt, solltet Ihr in nächster Zeit etwa von Dingen hören, welche das Volk durchaus in Unruhe zu setzen imstande wären!“
„Wir danken Euch“, ergriff nun Périer das Wort, „wir danken Euch, mein Herr, daß Ihr so viel Anteil am Geschicke Eueres Stiftes zu nehmen bereit seid; indes, betrübt Euch darüber nicht allzusehr! Unser Fürst, dessen seid getrost, wird eine verständige Lösung für diese verfängliche Lage zu finden wissen!“
„Möchte Gott es fügen“, flüsterte der Schreiber, „möchte Gott es immer nur fügen, daß die Welt darüber nicht aus den Fugen gerate!“
Plötzlich erhob er sich hastig, und, rasch den restlichen Punsch hinunterspülend, versetzte er, indem er einen gleichsam erschrockenen Blick auf die große Pendule warf, welche soeben die sechste Abendstunde schlug: „Ihr mögt mich, mein Herr, für diesmal entschuldigen“ – hier verbeugte er sich höflich gegen den Hauswirt – „ich muß wohl nocheinmal ins Stift hinauf und die Abschrift kollationieren; auch mag es sein, daß der Herr meiner bedarf!“
Mit denselben Worten schritt er, während Baptiste den inzwischen trockenen Mantel zur Stelle schaffte, auf Margarethen zu, deren Hände er zum Abschiede mit sichtbarer Verlegenheit ergriff.
„Ich hoffe sehr“, so schloß er, „ich hoffe sehr, es möge Euch dieser mein Besuch, den ich zweifelsohne, mein Fräulein, auch unternahm, um Euch meine Befürchtungen mitzuteilen – nun! daß Euch dieser Besuch nicht in Eurer Ruhe gestört haben möge. Ferner, verehrteste Demoiselle, wünschte ich noch die bescheidene Gunst zu erbitten, Euch bei passender Gelegenheit wieder meine Aufwartung machen zu dürfen; seiet indes versichert, daß ich einen weiteren Besuch nur dann zu unternehmen gedenke, wo Ihr Euch durch meine Gegenwart nicht etwa kompromittiert fühlen solltet!“
„Ich weiß, Monseigneur“, entgegnete Margarethe, ihm zum Abschiede abermals die Hände reichend, „seiet ganz unbesorgt; zudem wisset Ihr freilich, daß mein geschätzter Herr Vater kein impedimentum wider Euere Besuche einzuwenden hat, nicht wahr, Väterchen?“ Mit diesen Worten umschlang der hübsche Engel des Vaters Hals und drückte demselben einen herzhaften Kuß auf die Wange.
„Meine Tochter jedenfalls versteht sich auf jene fatale Kunst, ihren alten Vater um den Finger zu wickeln“, versetze jener mit sichtlichem Stolze, „mag sie von den edlen Verhältnissen, welche dieser mit dem Mercurius hat, indessen auch nicht allzuviel verstehen!“
Der Schreiber schlug sein Mäntelchen um die schmalen Schultern und nahm mit einer innigen Geste und etwelchen artigen Redensarten nocheinmal Abschied von dem ungleichen Paare, ehe ihn Baptiste, der ihm eine Lampe vorantrug, zum Ausgange geleitete.
Herr Périer zog sich, nachdem der Diener das Souper aufgetragen hatte, welches im benachbarten Esszimmer eingenommen wurde, nocheinmal in sein Arbeitszimmer zurück; er war es gewohnt, am Ende des Tages noch einmal seine Wirtschaftsbücher durchzusehen, und so blieb Margarethe denn allein in dem Gesellschaftsraum zurück. Da lag immer noch jenes Buch, welches der Schreiber vorhin dem Schranke entnommen, auf dem Tische, noch genau so, wie er es vor ihren Vater hingelegt hatte. Sie raffte es vom Tische und war schon im Begriffe, dasselbe wieder an seinen gewohnten Platz zu stellen, welchen eine Lücke zwischen den Bücherreihen genugsam bezeichnete; da überfiel sie mit einemmal das plötzliche Verlangen, in dem Buche zu lesen, mit solch ungeahnter Heftigkeit, sodaß sie beinahe vor sich selber erschrocken wäre – und aufs Geratewohl überschlug sie einige Seiten. Mit wachsender Erregung begann sie zu lesen, während eine leichte Purpurröte ihre Wangen färbte:
„Dequoy Dieu irrité a envoyé de terribles persecutions, comme il a menacé par sa loy d’exterminer les peuples qui souffriront vivre les Sorcières. C’est pourquoy sainct Augustin au livre de la Cité, dit que toutes les sectes, qui jamais ont esté, ont decerné peines contre les Sorcières.“ – Himmel! Siehe hier ... „ont dit estre le suget de tous maux, laquelle matiere Salomon en ses allegories et paraboles appelle femme, quand il dit ‚Qu’il n’y a malice qui approche la malice de la femme: et tantost il l’appelle paillarde, qui recoit tous hommes“–
Ein lebhafter Schauder durchbebte ihren ganzen Körper, als sie das Buch zuletzt wieder an seinen angestammten Platz zurückstellte. Soeben im Begriffe, sich wieder auf ihren Stuhl niederzulassen, erschien Baptiste, sich angelegentlich bei dem Fräulein erkundigend, ob sie noch etwas zu ihrer Verfügung wünsche. Margarethe, mit dem Verlangen, alleine zu sein, wie es sie zuweilen befiel, dankte hierauf und gab ihm zu verstehen, daß sie den Rest des Abends ohne Gesellschaft zu verbringen wünsche, woraufhin der Diener sich schweigend empfahl.
Margarethe, welche tagsüber von einem Präzeptor im Violinspiel und auf der Harfe unterrichtet wurde und überdies noch jene gewohnte und durchaus standesgemäße Erziehung, wie es sich für ein vornehmes Fräulein ihres Standes schickte, genoß, welches die finanziellen Umstände ihres Vaters unschwierig gestatteten, besorgte nebenbei auch noch zuweilen jene häuslichen Geschäfte, wie es ihre Mutter, ehe sie verstorben war, stets getan hatte. Bei aller Neigung, welche sie zur Kunst und zur Poesie empfand, war sie dennoch stets verständig genug gewesen – und dies entsprach auch ganz dem Wunsche des Vaters, dem es freilich nicht allzuviele Umstände bereitet hätte, neben Baptiste noch eine Wirtschafterin einzustellen – um einzusehen, daß ein tüchtiger Mann, welcher wohl einmal um ihre Hand anhalten würde, von seiner Hausfrau auch erwarte, daß sie fähig sei, jene Geschäfte, wie sie ein geordnetes Hauswesen nun gewöhnlich erforderte, zu verrichten. Es möchte nun vielleicht jemand einwenden, daß es in der Familie eines reichen Kaufmannes keinesfalls ungewöhnlich gewesen wäre, jene Art von Geschäften durch eine Dienstmagd oder eine ähnliche Person verrichten zu lassen; dennoch war der alte Périer viel zu sehr dem Bürgerstand, dem er nun einmal entstammte, verhaftet, als daß er sich ernsthaft mit derlei Überlegungen getragen hätte. Er hatte seinen gegenwärtigen Wohlstand selbst mit den bescheidensten Mitteln begründet und hielt deshalb darauf, daß die Tochter, obgleich er ihre Erziehung und Ausbildung mit allen Kräften zu befördern suchte, mit beiden Beinen im Leben stehe; oftmals, so pflegte er bisweilen zu sagen, habe er erlebt, wie gewisse Leute sich ganz im Bewußtsein ihres Standesdünkels gewiegt hätten, jegliche Art von praktischer Arbeit verschmähend; dann sei es wohl zuweilen vorgekommen, daß sie unverhofft in Umstände geraten wären, welche eine gewisse Tüchtigkeit in derlei Dingen erfordern; was Wunder, daß sie dann, sie, die für die Wohlfahrt ihres Lebens stets nur andere Sorge tragen ließen, sich nicht hätten zu helfen gewußt, und er wüßte von so manchereinem zu berichten, der deshalb an den Bettelstab gekommen wäre. Wie dem nun auch immer sein mochte, jedenfalls war es Margarethen allezeit selbst angelegen gewesen, sich jene Fähigkeiten, wie man sie von einer tüchtigen Hausfrau erwarten durfte, zu eigen zu machen. Dennoch machte sie nie einen Hehl daraus, daß ihr all diese Dinge nur gering galten, wenn sie diese mit jener Schönheit, mit jenem Geiste verglich, welcher der Kunst und den schönen Wissenschaften innewohnt. Wenn sie bisweilen daran dachte, wie sie so ganz jenen Stunden lebte, in welchen es ihr also vergönnt war, sich ihren geheimen Neigungen hinzugeben, und wie sie dann bedachte, wie sie sich wohl einen Mann wünsche, erfahren und gewandt in der Kunst und in den Wissenschaften, dann kam ihr häufig ihr wunderliches Verhältnis mit dem jungen Schreiber zu Sinn – so auch jetzt, als sie sich, die Reste des inzwischen lauen Punsches aus dem Glase nippend, wieder bei Tische niederließ.
Jener hatte sie damals, da sie ihm so gänzlich unverhofft auf der Nonntaler Wiese beim Maitanze begegnet war, gleich nach wenigen Tagen zum ersten Male besucht. Er hatte daraufhin, stets unter Wahrung der üblichen Höflichkeit und ohne irgend jemals den Anstand zu verletzen, ihr zu mehreren Malen Besuche abgestattet, welche dem alten Périer zunächst, da er, wie wir erfahren haben, andere Pläne hegte, umso mehr mißfielen, als seine Tochter bei äußerster Jugend ihr achtzehntes Jahr noch nicht erreicht hatte. Nachdem er zuletzt aber bemerkt hatte, daß der Sekretarius, obgleich nicht der von ihm erhoffte Kaufmann, so aber dennoch ein manierlicher und ebenso strebsamer wie anständiger junger Mensch war, hatte er schließlich begonnen, dem jungen Manne mehr Anteilnahme zuzuwenden, als dies der gewöhnliche Anstand erfordert hätte. Auch Margarethen waren die Höflichkeitsbesuche des jungen Mannes nicht unerwünscht gewesen, obwohl sie anfänglich keine besondere Neigung für ihn im Herzen empfunden hatte! Ja, da sie sich so mehrere Male begegnet waren und Margarethe sich verwunderte, wie sich so gar kein Sturm der Liebe, der Leidenschaft in ihrem Herzen entzünden wollte, da fiel ihr wohl zuweilen die Liebe ein, jene große, mächtige, leidenschaftliche Liebe, wie sie die Dichter und Sänger in ihren Liedern jemals besungen, und sie sagte sich selbst immer und immer wieder, daß dies die rechte Liebe nicht wohl sein könne; dennoch mußte sie sich eingestehen, daß ihr der Umgang mit dem jungen, geistvollen Manne, zumal seine Besuche sich in der Folge häufiger einzustellen begannen, nachgerade zu einem Bedürfnisse ward, welches sie nicht mehr zu missen wünschte. Sie empfand ihn als einen höchst angenehmen Gesellschafter, denn er konnte wunderbar über Poesie reden, er kannte all die alten Dichter und hatte die meisten ihrer Werke gelesen, es ließ sich mit ihm vortrefflich über die Philosophie sprechen, er kannte viele Sprachen Europas und war bewandert in den Wissenschaften und – was die Hauptsache war – wußte sie sich in einen lateinischen Dichter einmal nicht zu finden, so vermochte er ihr die betreffende Stelle mühelos auseinanderzusetzen. Oftmals hatte sie in den vergangenen Tagen über jenes wunderliche Verhältnis nachgesonnen: und wenngleich es sie auch häufig bedrückte, daß sie für ihn so gar keine Leidenschaft, gar keine Zuneigung jener Art, wie ein Weib dergleichen dem Manne gegenüber gewöhnlich empfinden mochte, zu entwickeln imstande war, so hatte sie sich doch an seine Besuche, ja auch wohl an die bloße Gegenwart seiner Person so sehr gewöhnt, daß sie sich ein Leben ohne ihn gar nicht recht mehr vorstellen konnte. Und ja, manchmal – ja, manchmal war es ihr doch, als hätte sie sich soeben bei jenem heimlichen Gedanken ertappt, es möchte ihr wohl nichts ausmachen, wo er sich gelegentlich kühner zeigen möchte, versuchen möchte, sie in den Arm zu nehmen, und – ja, und sie womöglich auch zu küssen. Indessen war das Wesen des jungen Gelehrten von einer Art, daß es keinerlei Neigung zu derlei Dingen zeigte, ja, daß es vielmehr von einer außergewöhnlichen Schüchternheit zeugte, die manchmal beinahe an Furcht zu grenzen schien. Nur wenn er – wie damals auf dem Maifest – etwas Wein getrunken hatte und jene Fessel der Schüchternheit sich löste, dann schien er bisweilen etwas kühner zu werden – ein Umstand, der jedoch kaum zu verhindern vermochte, daß er, sowie die wechselseitigen Vertraulichkeiten überhand zu nehmen drohten, sogleich wieder in die gewohnte Verlegenheit verfiel – aus welcher er sich zumeist nur dadurch wieder zu retten wußte, indem er aufs Geratewohl einen Gegenstand der Kunst oder der Wissenschaften aufgriff und denselben auch allsogleich auf das genaueste auseinanderzusetzen begann. Und dennoch war sein Wesen bei aller Unbeholfenheit, welche ihn in dieser Hinsicht verhinderte, von einer außerordentlichen Liebenswürdigkeit, welche vorzüglich in seiner ungewöhnlichen Schüchternheit wurzelte, sodaß man ihm seine Sympathie nicht versagen konnte. Geschah es nun zuweilen, was selten geschah – daß man etwa Ursache gehabt hätte, ihm zu grollen, so konnte man ihm doch nie lange böse sein. Und so hatte er, der unterdessen auch die Achtung des Vaters genoß, seine Besuche mit beharrlicher Geduld wiederholt – bis zu jenem heutigen Abende, an dem er unverhofft mit jener wunderlichen Botschaft erschienen war. Gar viel, so dachte die einsame Wächterin nun gleichsam bei sich selbst, hatte sie von seinem wunderlichen Gerede freilich nicht verstanden; nur soviel, daß hier allem Anscheine nach einige Leute angekommen seien, welche das Stift um irgendwelcher Dinge willen zu inquirieren gedachten. Sie hätte wohl von allem Anfange an bemerkt, wie er sehr aufgeregt gewesen sei und sich höchst absonderlich verhalten habe; und dann fiel ihr ein, wie er jenes Buch vor ihres Vaters Augen auf den Tisch gelegt hatte – und bei dieser Gelegenheit hatte er sie auf eine Weise angesehen – auf eine so seltsame Weise, welche ihr erst jetzt, da er längst fortgegangen, durch Mark und Bein drang. Und da ging ihr nun plötzlich auf, wie er dann zu sprechen fortgefahren von Bodinus und Remigius, vom Formicarius und ähnlichen, höchst wunderlichen Dingen, von denen sie ehedem kaum jemals ein Wort vernommen hatte und deren Erwähnung man ohnehin nach Möglichkeit zu meiden schien ...
Abermals durchbebte ein Schauer ihren Leib, da sie sich nun bei Tische erhob und nochmals nach dem Schranke schritt, um erneut aufs Geratewohl jenes Buch zu eröffnen, welches sie eben zuvor noch in Händen gehalten; und als ihr darin sogleich dieser Holzschnitt ins Auge fiel – ein Weib, mit absonderlich verrenkten Gliedern, aufgezogen an Seilen, den Ausruck allerhöchsten Schmerzes im gepeinigten Antlitz, daneben die Worte:
„Wo du geduldt hast in der Pein,
so wird sie dir gar nutzlicht sein,
drum gib dich gut und willig drein,
bekenn‘, und Gott wird gnädig sein!“
– da rüttelte ein Schauder all ihre Glieder, und geschüttelt vom Ekel, schob sie das Buch zurück in den Schrank. Von den widerstrebendsten Gedanken erfüllt, suchte sie den Weg in ihre Schlafkammer, welche nach dem Mönchsberge hin gelegen war. Indem sie noch die Öllampe auf ihrem Nachtkästchen anfachte, trat sie zum Fenster. Tief Atem schöpfend, öffnete sie die Flügel desselben und tat einige befreiende Atemzüge, da sie so in die herbstliche Dunkelheit hinausblickte. Das Gewitter vom Nachmittage schien verflogen, am nächtlichen Himmel jagten düstere Wolken, zwischen welchen der Halbmond zuweilen gespenstisch hervorblickte, die Wolkensäume mit falbem Lichte umschimmernd. Die Bürgerglocke war bereits erklungen, die Ronde war ihren Weg durch die Gassen gezogen und hatte die Leute in die Häuser getrieben. Die Dächer und Kuppeln der Stadt blinkten im wechselnden Lichte des Mondes, sowie dieser sich hinter düstern Wolkentürmen zeigte; dahinter ragten die Stiftskirche sowie der mächtige, plumpe Turm der Franziskanerkirche in das nächtliche Schweigen. Nur einzelne Fenster der Gasse standen noch erleuchtet; eine einsame Katze streunte ihren Saum entlang und verschwand endlich hinter einer Ecke, welche der Vorsprung eines Hauses bildete, und in der Ferne hörte man einen Hund anschlagen. Der Blick Margarethens schweifte zur mächtigen Feste empor, welche, mit ihren vielen Türmen und Basteien, hoch über dem mannigfaltigen Dächergewirr der Stadt thronte. Auch dort oben schienen einige wenige Fenster noch beleuchtet zu sein – wer mochte dort droben noch wachen? War es etwa der Fürst selbst, welcher über der Besorgnis, die seinen Busen zerwühlte, keinen Schlummer finden mochte? War es ein Chorherr, welcher dort in einsamer Kammer sein Gebet verrichtete, der Gelehrten einer, welcher zu später Stunde noch über seinen Büchern wachte? Schweigend starrte die Burg hernieder zu der einsamen Wärterin, welche auf ihre Frage keine Antwort zu erhalten schien.
Da fuhr‘s mit einemmal wie von einem fernen Wetterleuchten über die Stadt hin – fahl blinkten die steilen Zinnen der Feste im Mondenscheine, wie ein leuchtender Blitz fuhr’s über die Türme und Dächer der Stadt hin – und zuletzt, da der seltsame Spuk vorübergegangen, blieb ihr Auge an einem einsamen Fenster des Stiftes hängen, aus dessen Öffnung noch Licht nach draußen quoll. Befand sich dort nicht die Schreibstube, das Scriptorium des Klosters – saß etwa der junge Sekretarius Besenrieder noch bei nächtlicher Arbeit über seinen Schriften, welche er für seinen Herren fertigstellen mußte?
Ein tiefer Atemzug schwellte den Busen des Mädchens, das unterdes begonnen hatte, sich seiner Kleider zu entledigen. Ehe es das Fenster schloß, warf es noch einen letzten Blick empor zum Himmel – und siehe, zwischen den ziehenden Wolken funkelten einige Sterne vom stahlblauen Nachthimmel zu der Einsamen hernieder. Jagende Wolken verdeckten sogleich wieder das liebliche Bild. Margarethe, sowie sie im trüben Scheine der Lampe ihr allabendliches Gebet verrichtet hatte, das ihr heute inbrünstiger als gewöhnlich von den Lippen wollte, wickelte sich fest in ihre Bettdecke ein. Nocheinmal sann sie inniglich über das wunderliche Erscheinen des jungen Schreibers nach. Über diesen Betrachtungen fiel sie schließlich in einen sanften Schlummer.
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