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Jener Umstand, daß den sogenannten „Pensées“, den „Betrachtungen“ [1] – jenem großangelegten, apologetischen Werke Pascals lange Zeit keine angemessene deutsche Übersetzung korrespondierte, welche, wenn sie doch zuweilen rudimentär bestand, stets unvollständig oder unbefriedigend blieb, ließ endlich das Interesse an einer entsprechenden Übertragung als ein sehr lebhaftes erscheinen. Nachdem diesem fühlbaren Mangel durch eine Übertragung von Herrn Ulrich Kunzmann – meinen Informationen zufolge die einzige, die sämtliche Fragmente der „Pensées“ umfaßt und comme il faut ausgeführt ist – fürs Erste abgeholfen war, fiel mir irgendwann eine neuere Ausgabe des französischen Originals in die Hände, die, jener Textfassung von Philippe Sellier aus dem Jahre 1991 folgend, außerdem mit zahlreichen, zumeist recht aufschlußreichen Annotationen und Bemerkungen von Gérard Ferreyrolles versehen war.
Da diese neue Ausgabe aus dem Jahre 2000 von „Classiques Garnier“ sowohl formal als auch in Hinblick auf Reihenfolge und Anordnung der einzelnen Fragmente aktueller erschien als jene von Louis Lafuma aus dem Jahre 1963 bzw. 1975 (Neuauflage), welche der Übersetzung Herrn Kunzmanns zur Vorlage diente, gestaltete sich in mir sogleich das Vorhaben, die gesamten „Pensées“ – mitsamt den für das Verständnis der einzelnen Fragmente höchst wertvollen Anmerkungen von Ferreyrolles, wo erstmalig auch neue Resultate der Pascalforschung berücksichtigt werden – in einer neuen Übersetzung dem Publikum vorzulegen. Eine persönliche Anfrage bei den Herren Sellier und Ferreyrolles, beide Professoren an der Sorbonne zu Paris und denen mein besonderer Dank gilt, ergab, daß von dieser neueren, umfassenden Ausgabe keine deutsche Übersetzung existiert und sie eine solche ausdrücklich begrüßen würden. Die vorliegenden Texte folgen denn auch der von Philippe Sellier getroffenen Anordnung in der Fassung von 1991; letzterer lag ein beglaubigter Apograph aus dem Besitz von Pascals älterer Schwester Gilberte zum Grunde.
Bei der Übertragung des Originaltextes wurde eine Art der Übersetzung angestrebt, welche sich in angemessener Rücksicht auf unsere deutsche Muttersprache dennoch nie zu weit vom französischen Original entfernen sollte. Ich habe daher an manchen Stellen, wo eine allzugroße philologische Beharrlichkeit sich vielleicht ihrem Inhalte abträglich gezeigt hätte, zugunsten einer besseren Verständlichkeit in Hinblick auf Bedeutungsinhalte einer freieren Übersetzung den Vorzug gegeben; indessen war es kaum ein minderes Anliegen, den philologischen Ansprüchen in gleicher Weise genug zu tun. Bei komplexen, syntaktischen Satzstrukturen wurde versucht, mittels sorgfältiger Interpunktion sowie, falls dergleichen notwendig erschien, einer Gliederung in mehrere Hauptsätze das Textverständnis zu erleichtern. Eine besondere Behandlung erforderten die zahlreichen Pronomina des fortlaufenden Textes, insbesondere Personal-, Demonstrativ- und Relativpronomina: hier wurde bei problematischen Stellen, wo eine falsche Zuordnung den Sinn des Textes unter Umständen entstellt hätte, anstelle des jeweiligen Pronomens das entsprechende Substantiv gesetzt. Die Orthographie folgt der alten Rechtschreibung. Im allgemeinen darf gesagt werden, daß mein vorzüglichstes Bemühen stets darauf gerichtet war, die Intentionen Pascals auf die bestmögliche Weise zu transportieren.
Auch wenn die nachfolgende Bezeichnung dem Werk in all seiner Mannigfaltigkeit sicherlich nicht in vollem Umfange gerecht wird, dürfen wir die „Pensées“ von ihrem allgemeineren Standpunkte durchaus als eine Apologie der christlichen Religion begreifen. Diese nimmt in der Art und Weise ihres Aufbaues, wie ihrer Anlage nach die Gestalt einer Wechselrede, eines fiktiven Dialoges an: Glaube und Unglaube, Überzeugung und Zweifel alternieren in den einzelnen Fragmenten auf gar eigentümliche Weise und bezeichnen so gleichsam jene Widersprüche, denen sich Pascal selbst bei der Verfassung seiner „Apologie“ bald in höherem, bald in geringerem Maße unterworfen sah und die er, durch die Reflexion, zunächst für sich selbst auflösen mußte. Er tat dies auf gar meisterliche Weise, indem er dem eigentlichen Gegenstand seiner Betrachtungen – der geistigen Anschauung des Menschen mit all seinen anthroposophischen Möglichkeiten zur Erlangung einer Gotteserkenntnis – einen Doppelsinn beilegte, einen immanenten und einen transzendenten – ein Zug also, der ihm gleichsam gestattete, die Widersprüche nebeneinander bestehen zu lassen, in ihr wahres Verhältnis untereinander und zueinander zu setzen und das Eine durch das Andere und im Anderen aufzulösen: der Begriff des „logischen Widerspruches“ als Sinnbild der höchsten Weisheit war geboren! In ihm werden wir Teil eines Dialoges, in dem wir selbst jederzeit die Rolle des Gläubigen oder Ungläubigen, jene des Zweiflers oder des im Glauben Erstarkten annehmen können; das schlechthin Geniale dieser Art der pascalschen Dialektik besteht eben darin, daß wir nie wahrhaft erkennen, in welcher Rolle wir uns nun befinden – je nachdem, ob wir uns selbst gerade im Zustande des Zweifels oder aber einer gegenteiligen Disposition befinden – und endlich, in welcher Rolle der Verfasser selbst zu uns spricht: auf geniale Weise führt Pascal uns durch ein System von gleichsam diametralen Betrachtungen, zwischen denen unser Geist nun unaufhörlich hin- und herpendelt: unser freier Wille oszilliert und gelangt nachgerade zur Entfaltung und zuletzt zu einem Punkte, wo er sich der Leitung durch seinen geistigen Führer entringen und die Verantwortung für eine eigene Entscheidung übernehmen muß; vielleicht noch nie zuvor ward die Idee unserer christlichen Religion so klar und transparent, so begreiflich und anschaulich vor dem menschlichen Geiste entwickelt!
Wir könnten nun Bedauern darüber empfinden, daß Pascal aufgrund seines frühen Todes keine Gelegenheit mehr verblieb, sein Werk nach seinem ihm gebührenden Umfange auszuführen, sondern uns vielmehr nur jene vorliegenden Bruchstücke desselben hinterließ; dennoch dürfen wir füglich jene Bruchstücke als etwas vom Edelsten und Erhabensten betrachten, was dem menschlichen Geiste jemals entsprossen!
Ich hätte diese kleine Einleitung wohl auch nach eigenem Ermessen für höchst entbehrlich gehalten, wäre da nicht jenes sehnliche Verlangen gewesen, dem Leser in kurzen Zügen das Wesen des Werkes vor Augen zu stellen – verbunden mit dem innigsten Wunsche, es möge sich darin erschließen das geistige Abbild eines der größten Denker unserer Geistesgeschichte der Allgemeinheit, welcher es nunmehr angelegen sei, sich selbst ein Bild darüber zu verschaffen, inwieweit unser Unterfangen ein glückliches genannt zu werden verdient!

Salzburg, den 17. August 2005
Der Verfasser

 

[1] Kunzmann übersetzt „Gedanken“, und so wird der Titel der „Pensées“ auch in den meisten Fällen wiedergegeben. Ebenso entspricht der hier gebrauchte Begriff der Semantik des französischen Substantivums, und demgemäß habe ich übersetzt.



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