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[VIII] WIDERSPRÜCHE

151
 

Nachdem wir die Niedrigkeit und Größe des Menschen dargelegt haben.

Der Mensch soll nun seinen Wert einschätzen. Er soll sich selbst lieben, denn es wohnt in ihm eine der Erkenntnis des Guten fähige Natur, aber er soll deshalb nicht die Niedrigkeiten lieben, die in dieser Natur wohnen. Er soll sich verachten, weil er diese Fähigkeit nicht zu nützen weiß, er soll aber diese natürliche Fähigkeit deshalb durchaus nicht geringachten. Er soll sich hassen, er soll sich lieben. Er besitzt in sich die Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen und glücklich zu sein, aber er besitzt durchaus keine Wahrheit, die entweder beständig oder befriedigend ist.

Ich möchte den Menschen also dazu bewegen, daß er wünscht, die Wahrheit zu finden, und daß er bereit und frei von allen Leidenschaften sei, um ihr zu folgen, wo immer er sie finden wird, da ich weiß, wie sehr seine Erkenntnis sich durch die Leidenschaften verdunkelt hat. Ich möchte gern, daß er die Sinnenlust in sich haßt, die von sich aus die Beschlüsse lenkt, damit sie ihn bei seiner Entscheidung nicht verblende und ihn nicht aufhalte, sobald er seine Entscheidung getroffen haben wird. 

152

 

Wir sind so dünkelhaft, daß wir der ganzen Welt bekannt sein möchten, sogar jenen Menschen, die da kommen werden, wenn wir nicht mehr sein werden. Und wir sind so eitel, daß uns die Wertschätzung von fünf oder sechs Personen, die uns umgeben, Vergnügen und Befriedigung verschafft.
 

153

 

Es ist gefährlich, dem Menschen allzusehr zu zeigen, wie sehr er den Tieren gleicht, ohne ihm zugleich seine Größe zu zeigen. Außerdem ist es gefährlich, ihm zu sehr seine Größe ohne seine Niedrigkeit zu zeigen [1]. Und noch gefährlicher ist es, ihn in Unkenntnis des ersteren wie des letzteren zu lassen, aber es ist sehr nützlich, ihm das eine wie das andere vor Augen zu führen.
 

154

 

Der Mensch soll nicht glauben, daß er den Tieren oder den Engeln gleiche, er soll auch nicht in Unkenntnis des einen wie des andern sein, sondern beides wissen [2].
 

155

 

A.P.R. [3] Größe und Elend.

 

Da das Elend ein Resultat der Größe und die Größe ein Resultat des Elends ist, haben die einen umso mehr auf das Elend geschlossen, als sie dafür die Größe zum Beweis genommen haben, während die anderen [4] umso lebhafter auf die Größe geschlossen haben, gerade weil sie vom Elend aus geschlossen haben. Alles, was die einen zu sagen vermochten, um die Größe darzustellen, hat den anderen nur als Argument gedient, daraus das Elend zu folgern, da man ja nur umso elender ist, je höher man gefallen ist. Und bei den anderen verhält es sich umgekehrt. Die einen haben sich in einem unaufhörlichen Zirkel wider die andern gewandt, wobei es gewiß ist, daß im selben Grade, als die Menschen Erkenntnis besitzen, sie sowohl Größe als auch Elend im Menschen finden. Mit einem Worte, der Mensch weiß, daß er elend ist. Er ist folglich elend, weil er es nun einmal ist. Aber er ist ebenso groß, weil er dies ja erkennt.

156

 

Widerspruch; Verachtung unseres Daseins, den Tod um nichts erleiden, Haß unseres Daseins [5].

 157

 

Widersprüche.

 

Der Mensch ist von Natur aus leichtgläubig wie ungläubig, furchtsam wie tollkühn.
 

158

 

Was sind nun unsere natürlichen Grundsätze, wenn nicht unsere Grundsätze der Gewohnheit? Und bei den Kindern diejenigen, die sie von der Gewohnheit ihrer Väter übernommen haben, wie die Tiere den Jagdinstinkt? [6]

Eine andersgeartete Gewohnheit wird auch andere natürliche Grundsätze an die Hand geben. Dergleichen wird durch die Erfahrung deutlich, und wenn es Grundsätze gibt, die für die Gewohnheit unausrottbar sind, so gibt es auch Grundsätze der Gewohnheit wider die Natur, welche für die Natur und eine zweite Gewohnheit unauslöschlich sind. Dies hängt von der Veranlagung ab.

 159

 

Die Väter besorgen, daß die natürliche Zuneigung der Kinder erlischt. Was ist also diese Natur, welche dem Erlöschen unterliegt?

Die Gewohnheit ist eine zweite Natur, welche die erste zerstört [7].

Aber was ist Natur? Weshalb ist die Gewohnheit nicht natürlich?

Ich besorge höchlichst, daß diese Natur selbst nur eine erste Gewohnheit ist, wie die Gewohnheit eine zweite Natur ist.

 

160

 

Die Natur des Menschen läßt sich auf zweierlei Art und Weise betrachten. Die eine seinem Zweck nach, und dann ist er großartig und unvergleichlich. Die andere der Mehrzahl nach, wie man etwa die Natur des Pferdes und des Hundes nach deren Mehrzahl beurteilt, indem man ihren Lauf beobachtet et animum arcendi [8]; und dann ist der Mensch niederträchtig und gemein. Und hier sind die beiden Wege, die uns den Menschen auf solch unterschiedliche Weise beurteilen lassen und die bei den Philosophen so viel Streit verursachen.

Denn der eine verleugnet die Prämisse des anderen. Der eine [9] sagt: „Der Mensch ist keineswegs um dieses Zweckes willen geschaffen, weil all seine Handlungen diesem Zweck widerstreben.“ Der andere [10] behauptet: „Er entfernt sich von seinem Zweck, wenn er diese niederträchtigen Handlungen begeht.“

 

161

 

Zweierlei Dinge unterrichten den Menschen über seine ganze Natur: der Instinkt und die Erfahrung.

 

162

 

Beruf.

 

Betrachtungen.

 

Alles ist einheitlich, alles ist unterschiedlich. Wie viele Naturen sind in jener Natur des Menschen! Wie viele Berufe, und durch welchen Zufall! Jeder wählt für gewöhnlich jenen Beruf, den er loben gehört hat. Welch wohlgeformter Schuhabsatz [11].

 

163

 

Rühmt er sich, so erniedrige ich ihn,

erniedrigt er sich, so rühme ich ihn,

 widerspreche ihm stets, solange,

bis er begreift, daß er

ein unbegreifliches Ungeheuer ist.

 

164

 

Die Hauptargumente der Pyrrhoniker – ich übergehe hier die weniger bedeutsamen – sind, daß wir überhaupt keine Gewißheit von der Wahrheit dieser Grundsätze – den Glauben und die Offenbarung ausgenommen – haben, außer, daß wir dieselben auf natürliche Weise in uns fühlen. Nun ist diese natürliche Empfindung aber kein überzeugender Beweis ihrer Wahrheit, da es ja nun einmal – weil wir über keinerlei Gewißheit außer dem Glauben verfügen, ob der Mensch durch einen gütigen Gott, einen bösartigen Dämon oder durch Zufall erschaffen wurde – zweifelhaft ist, ob uns diese Grundsätze, unserem Ursprung nach [12] als wahrhaftig oder falsch oder ungewiß gegeben sind. Außerdem, daß niemand die Gewißheit hat – außer dem Glauben – ob er wacht oder schläft [13], unter Berücksichtigung dessen, daß wir während des Schlafes ebenso fest zu wachen glauben, als wir das tatsächlich tun. Man glaubt die Räume, die Gestalten, die Bewegungen zu sehen. Man fühlt die Zeit verrinnen, man ermißt sie, und zuletzt handeln wir ebenso wie im Zustande des Wachens. Da die Hälfte des Lebens im Schlafe zugebracht wird, haben wir unserem eigenen Bekenntnis nach oder was uns auch immer als solches erscheinen mag, keinen Begriff vom Wahren, weil dann ja alle unsere Empfindungen Vorspiegelungen sind. Wer weiß, ob jene andere Hälfte des Lebens, wo wir zu wachen glauben, nicht eine andere Art des Schlummers ist, ein wenig verschieden vom ersten, aus dem wir erwachen, wenn wir zu schlafen wähnen [14]? (Da wir häufig davon träumen, daß wir träumen, dabei einen Traum auf den folgenden häufend, kann es ebensowohl sein, daß jene Hälfte unseres Lebens, wo wir zu wachen glauben, selbst nur ein Traum ist, auf welchen die übrigen Träume gleichsam aufgepfropft sind und aus dem wir mit dem Tode erwachen und während welcher wir ebenso wenige Grundsätze vom Wahren und Guten besitzen als während des natürlichen Schlafes, und daß jener Verlauf der Zeit, unseres Lebens sowie jene Akzidenzien, die wir wahrnehmen, jene unterschiedlichen Gedanken, die uns dabei bewegen, vielleicht weiter nichts sind als Vorspiegelungen, die dem Verlauf der Zeit und den eitlen Trugbildern unserer Träume gleichen.)

Das sind die beiderseitigen Hauptargumente [15]. Ich übergehe hier die weniger bedeutsamen, wie etwa die Ausführungen der Pyrrhoniker wider die Einwirkungen der Gewohnheit, der Erziehung, der jeweiligen Landessitten und ähnliche Dinge, die, obzwar sie den größten Teil der gewöhnlichen Leute, die ihre Anschauungen ja nur auf jenen haltlosen Grundlagen aufbauen, für sich einnehmen, vom leisesten Atemzug der Pyrrhoniker umgestürzt werden. Man braucht diesbezüglich nur ihre Bücher einzusehen, falls man davon nicht genügend überzeugt ist; man wird dergleichen sehr schnell sein, ja vielleicht nur allzusehr.

Ich befasse mich mit dem einzigen, schlagkräftigen Argument der Dogmatiker, welches, wollen wir ohne Umschweife und aufrichtig reden, jenes eine ist, daß man die natürlichen Grundlagen nicht anzweifeln kann.

Dem halten die Pyrrhoniker, mit einem Worte, die Ungewißheit unseres Ursprunges, die jene unserer Natur mit einschließt, entgegen; worauf die Dogmatiker, seit die Welt besteht, noch immer eine Antwort suchen.

Das ist der offene Krieg zwischen den Menschen, wo jedermann Partei ergreifen und sich notwendigerweise entweder auf die Seite des Dogmatismus oder des Pyrrhonismus schlagen muß, denn wer unparteiisch bleiben will, wird namentlich ein Pyrrhoniker genannt werden. Diese Parteilosigkeit ist das Wesen dieses Klüngels. Wer nicht gegen sie ist, ist erst recht für sie. Sie sind nicht für sich selbst, sie sind neutral, unparteiisch, allem gegenüber unschlüssig, sich selbst nicht ausgenommen.

Wie also soll sich der Mensch in Ansehung eines derartigen Zustandes verhalten? Soll er an allem zweifeln? Soll er bezweifeln, ob er wacht, ob man ihn kneift, ob man ihn verbrennt? Soll er bezweifeln, ob er überhaupt zweifelt? Soll er an seiner Existenz zweifeln? Man kann soweit nicht gelangen, und ich setze es als eine Tatsache, daß es niemals tatsächlich einen vollkommenen Zweifler gegeben hat. Die Natur unterstützt die ohnmächtige Vernunft und hindert sie gleichsam, ihre Gedanken bis zu diesem Punkte fortzuspinnen.

Soll er also vielmehr behaupten, daß er sich gewiß im Besitze der Wahrheit befindet, er, der beim geringsten Anstoß, den man nimmt, nicht den kleinsten Beweis dafür geltend machen kann und gezwungen wird, seinen Anspruch auf Wahrheit aufzugeben?

Welches Hirngespinst ist also der Mensch, welches Objekt des Erstaunens, welch ein Ungeheuer [16], welches Chaos, welcher Gegenstand des Widerspruches, welches Wunderwerk, Richter über alle Dinge, armseliger Erdenwurm, Hüter des Wahren, Pfühle der Ungewißheit und des Irrtums, Segen und Fluch des Universums!

Wer soll diesen Knoten entwirren? (Sicherlich übersteigt dergleichen den Dogmatismus wie den Pyrrhonismus und alle menschliche Philosophie. Der Mensch überfordert den Menschen. Daß man also getrost den Pyrrhonikern beipflichte, was sie so laut in die Welt hinausposaunt haben, daß die Wahrheit weder in unserem Fassungsvermögen noch erreichbar sei [17], daß sie nicht hienieden sondern im Himmel heimisch sei, daß sie im Wesen Gottes verborgen liege und daß man sie nur nach jener Maßgabe zu erkennen vermag, wie es ihm gefällt, uns dieselbe zu offenbaren [18]. Lernen wir also aus der unerschaffenen und gleichsam Fleisch gewordenen Wahrheit unsere wahre Natur erkennen.

Man kann kein Pyrrhoniker sein, ohne Verzicht auf die Natur zu tun, wie man kein Dogmatiker sein kann, ohne Verzicht auf die Vernunft zu tun.)

Die Natur verwirrt die Pyrrhoniker, die Vernunft die Dogmatiker. Was also soll aus dir werden, o Mensch, der du deinen wahren Zustand vermittelst deiner natürlichen Vernunft suchst? Du kannst ebensowenig einer jener Parteien [19] entfliehen, als du in irgendeiner derselben zu bestehen vermagst.

Erkenne denn, Hochmütiger, welches Paradoxon du dir selber bist!Erniedrige dich selbst, ohnmächtige Vernunft! Schweig still, einfältige Natur! Lerne, daß der Mensch ewig den Menschen überfordert und erfahre von deinem Herrn deinen wahren Zustand, den du verkennst.

Höre auf deinen Gott.

(Ist es nicht sonnenklar, daß der Zustand des Menschen ein zwiefacher ist? Gewiß.) Denn schließlich, wenn der Mensch niemals verderbt worden wäre, er erfreute gewiß in seiner Unschuld sich sowohl der Wahrheit wie der Glückseligkeit. Und wäre der Mensch stets verderbt gewesen, so hätte er keinen Begriff weder von der Wahrheit, noch von der Glückseligkeit. Jedoch, unglücklich, wie wir sind, und das umso mehr, als wenn es keine Größe in unserem Zustande geben würde, haben wir einen Begriff vom Glück und können es nicht erlangen, fühlen wir eine Ahnung der Wahrheit und besitzennichts als den Irrtum, außerstande, in völliger Unwissenheit zu verharren und etwas mit Bestimmtheit zu wissen; so sehr ist es ausgemacht, daß wir auf einer Stufe der Vollkommenheit gestanden haben, von der wir unglücklicherweise gestürzt wurden.

Ein erstaunlich Ding jedoch ist, daß das am weitesten von unserer Erkenntnis entfernte Mysterium, wie es jenes von der Übertragung der Erbsünde ist, etwas ist, ohne das wir keinerlei Erkenntnis über uns selbst erlangen können!

Denn zweifellos gibt es nichts, was unserer Vernunft anstößiger ist, als die Behauptung, daß die Sünde des ersten Menschen jene schuldig gemacht hat, die, weil sie von dieser Ursache so weit entfernt sind, unmöglich Anteil an ihr haben zu können scheinen. Diese Verjährung erscheint uns nicht allein unmöglich, sie erscheint uns sogar höchst ungerecht. Denn was gibt es den Regeln unserer bedauerlichen Gerechtigkeit Widersprüchlicheres als ein Kind, zum bösen Willen unfähig, einer Sünde wegen auf ewig zu verurteilen, an der es so wenig Anteil zu haben scheint, da diese sechstausend Jahre [20], bevor es ins Leben trat, begangen wurde. Gewiß ist uns nichts mehr zuwider als diese Lehre. Und dennoch bleiben wir uns ohne dieses Mysterium, das unbegreiflichste von allen, selbst unverständlich. Die Verwicklung unseres Daseins zieht ihre geheimsten Falten und Verschlingungen aus diesem Abgrunde, sodaß der Mensch ohne dieses Mysterium unbegreiflicher ist, als dies Mysterium dem Menschen begreiflich ist.

(Woraus erhellt, daß Gott, um einzig sich selbst das Recht vorzubehalten, uns über uns selbst zu belehren, da er uns die Unbegreiflichkeit unseres intelligibelen Seins verleihen wollte, die Verwickelung so hoch, oder besser gesagt so tief verborgen hat, daß wir ganz außerstande wären, dorthin zu gelangen; sodaß wir uns nicht durch die hochmütigen Regungen unserer Vernunft, sondern durch die einfache Unterwerfung der Vernunft wahrhaft selbst zu erkennen vermögen. Diese festgelegten Grundlagen über die unantastbare Autorität der Religion lassen uns zweierlei gleichermaßen unverbrüchliche Wahrheiten des Glaubens erkennen: die eine, daß der Mensch im Zustande der Schöpfung oder in jenem der Gnade aller Natur überhoben ist, gleichsam als gottähnlich und als Teil der Göttlichkeit betrachtet wird. Die andere, daß im Zustande der Verderbtheit und der Sünde er in diesen Zustand gestürzt und dem Tier ähnlich ward. Jene beiden Satzungen sind gleichermaßen stark und gewiß.

Die Heilige Schrift offenbart sie uns deutlich, wenn sie an einigen Stellen sagt: Deliciae meae esse cum filiis hominum. Effundam spiritum meum super omnem carnem. Dii estis [21]. Usw. Und wenn sie an anderer Stelle sagt: Omnis caro foenum. Homo assimilatus est iumentis insipientibus et similis factus est illis. Dixi in corde meo de filiis hominum. – Kohelet, 3 [22].

(Woraus klar hervorgeht, daß der Mensch durch die Gnade gottähnlich gemacht und seiner Göttlichkeit teilhaftig wird, und daß er ohne die Gnade den wilden Tieren gleich angesehen wird.)

 

[IX] ZERSTREUUNG

165

 

„Wenn der Mensch glücklich wäre, wäre er dies umso mehr, je minder er zerstreut würde, wie Gott und die Heiligen.“ „Ja! Aber bedeutet dergleichen nicht glücklich sein, wenn man durch die Zerstreuung erfreut werden kann?“ – „Nein! Denn sie kommt anderswo her, gleichsam von außen, und daher ist sie abhängig und somit dem Umstande unterworfen, von tausenderlei Zufälligkeiten gestört zu werden, die Kümmernisse unvermeidlich machen.“

 166

 

Ungeachtet jener Leiden will er glücklich sein – und nichts anderes als glücklich sein – und ist außerstande, nicht glücklich sein zu wollen. Aber wie soll er es anstellen? Um es gänzlich zu erlangen, wäre es geboten, daß er sich unsterblich machte. Doch da er es nicht vermag, ist er darauf verfallen, sich derartigen Gedanken zu widersetzen.

Da die Menschen nicht imstande waren, ein Mittel gegen den Tod, das Elend oder die Unwissenheit zu finden, sind sie, um glücklich zu werden, auf den Gedanken verfallen, überhaupt nicht an derlei Dinge zu denken [23].

 

167

  

Ich ahne die Möglichkeit, überhaupt nicht gelebt zu haben, denn das Ich besteht in meinem Denken [24]. Also würde ich, der ich denke, nicht gelebt haben, wenn meine Mutter umgekommen wäre, ehe ich zum beseelten Wesen geworden wäre [25]; also bin ich kein schlechthin notwendiges Wesen. Desgleichen bin ich weder ewig noch unendlich. Aber ich erkenne sehr wohl, daß in der Natur ein schlechthin notwendiges, ewiges und unendliches Wesen existiert [26].

 

168
 

Zerstreuung.

 

Wenn ich mich bisweilen unterfangen habe, die mannigfaltigen Geschäfte der Menschen sowie jene Fährnisse und Leiden, denen sie sich zu Hofe und im Kriege aussetzen und woraus so viel Hader, so viele Leidenschaften und kühne, häufig schlechte Unternehmungen usw. erwachsen, recht zu betrachten, habe ich oftmals darauf hingewiesen, daß alles Unglück der Menschen nur von einem einzigen Umstande herrühre, der darin besteht, daß sie nicht ruhig in einer Kammer verweilen können. Falls ein Mann, der nichts zum Leben ermangelte, es verstünde, vergnüglich daheim zu verweilen, so würde er nicht ausziehen, um das Meer zu befahren oder eine Feste zu belagern. Man erkauft sich wohl nur deshalb ein Amt in der Armee für so teures Geld, weil man es unerträglich finden würde, in der Stadt zu verweilen; und man sucht die Unterhaltungen und die Zerstreuungen bei Spielen nur, weil man nicht vergnüglich in den eigenen vier Wänden zu verharren weiß usw.

Aber da ich dergleichen genauer bedachte und nachdem ich den Grund all unseres Unglücks gefunden hatte, wünschte ich dessen Ursache zu erforschen, und ich fand, daß es eine höchst zuverlässige gibt, welche im natürlichen Unglück unseres schwachen und sterblichen Zustandes besteht, der so elend ist, daß uns, wenn wir es recht bedenken, nichts und niemand darüber zu trösten vermag. 

Welchen Zustand man sich auch immer vorstellen mag, wo man alle Schätze anhäuft, die uns jemals zugehören können, so ist doch die Königswürde der schönste Rang der Welt. Und dennoch, man stelle sich einen König, umgeben von allen Annehmlichkeiten, die ihn einnehmen können, vor. Wenn er ohne Zerstreuung ist und man ihn jenen Erwägungen und Betrachtungen überläßt, was er ist, wird dieses kränkelnde Glück ihm wenig helfen. Er wird notwendig in Betrachtungen über jene Dinge verfallen, die ihn bedrohen, über Empörungen, die über ihn hereinbrechen können und zuletzt über den Tod und die Krankheiten, die unvermeidlich sind, sodaß er, wenn er ohne das ist, was wir Zerstreuung nennen, unglücklich ist, unglücklicher als der Geringste seiner Untertanen, der spielt und sich der Zerstreuung hingibt.

Von daher kommt es, daß das Spiel und der Umgang mit Damen, der Krieg und die hohen Ämter über die Maßen begehrt sind. Das geschieht weder deshalb, weil sich wahrhaft Glück darin fände, noch weil man sich einbildete, daß die wahre Glückseligkeit darin bestehe, Geld zu besitzen, das man beim Spiel gewinnen kann, oder in eben jenem Hasen bestehe, dem man nachjagt; man wollte ihn nicht haben, bekäme man ihn geschenkt. Es ist nicht jene sanftmütige und friedfertige Lebensweise, die uns an unsere unglückliche Lage denken läßt, die wir suchen, auch nicht die Fährnisse des Krieges oder die Mühsal der Arbeit, sondern es ist die Rastlosigkeit, die uns davon abhält, an unsere unglückliche Lage zu denken und die uns zerstreut. – Das ist der Grund, weshalb man die Jagd der Beute vorzieht [27].

Von daher kommt es, daß die Menschen dem Lärm und der Aufregung so sehr zugetan sind. Daher kommt es, daß das Gefängnis eine so entsetzliche Strafe ist. Von daher rührt auch, daß das Vergnügen an der Einsamkeit eine unverständliche Sache ist. Und schließlich ist die Zerstreuung die allergrößte Ursache des glücklichen Zustandes der Könige, daß man beständig versucht, sie zu unterhalten und ihnen alle möglichen Arten von Annehmlichkeiten zu verschaffen. – Der König ist von Leuten umgeben, die keine andere Absicht haben, als ihn zu zerstreuen und ihn davon abzuhalten, an sich selbst zu denken. Denn er ist unglücklich – und mag er auch König sein – sowie er daran denkt.

Das ist alles, was die Menschen haben erfinden können, um sich in einen glücklichen Zustand zu versetzen. Und jene, die darüber philosophieren und glauben, daß die Welt höchst unvernünftig sei, den ganzen Tag damit zu verbringen, hinter einem Hasen herzujagen, den sie gekauft nicht haben wollten, kennen unsere Natur nur wenig. Dieser Hase würde uns nicht vor dem Gedanken an den Tod und vor dem Elend bewahren, das uns von der Zerstreuung abhält, sehr wohl aber die Jagd.

A. Und wenn man ihnen folglich vorwirft, daß das, was sie mit solchem Feuereifer suchen, sie nicht zufriedenzustellen vermöchte, und wenn sie antworteten, wie sie dergleichen tun müßten, wenn sie innig darüber nachdächten, daß sie darin nichts weiter suchen als eine ungestüme und lebhafte Beschäftigung, welche sie davon ablenkt, an sich selbst zu denken, und daß sie sich deshalb einen interessanten Gegenstand vornehmen, der sie bezaubert und sie heftig anzieht, würden sie ihre Widersacher mundtot machen ... Aber sie entgegnen nicht auf diese Weise, weil sie sich selbst nicht kennen. Sie wissen nicht, daß es nur die Jagd und nicht die Beute ist, die sie suchen. Sie bilden sich ein, daß, wenn sie diese Stellung erreicht hätten, sie sich dann vergnüglich ausruhen würden und die unersättliche Natur der Begierde nicht fühlten. Sie glauben die Ruhe aufrichtig zu suchen, und suchen in Wahrheit nichts als rastlose Bewegung. Sie besitzen einen geheimen Trieb, der sie jener Suche nach äußerlicher Zerstreuung und Beschäftigung zuwendet, der von einem Gefühl ihres unaufhörlichen Elends herrührt, und sie haben einen anderen, geheimen Trieb, der uns von jener Größe unserer ersten Natur verblieben ist und der sie erkennen läßt, daß das Glück in Wahrheit nur in der Ruhe und nicht in der Aufregung liegt. Und aus diesen beiden widersätzlichen Trieben gestaltet sich in ihnen ein verworrener Vorsatz, der sich vor ihrem Blick im Grunde ihrer Seele verborgen hält und der sie bewegt, durch Geschäftigkeit nach Ruhe zu streben und sich stets vorzuhalten, daß sie jene Zufriedenheit, die sie keineswegs besitzen, erlangen werden, wenn sie erst einige Schwierigkeiten, die sie ausmachen, überwunden haben und sich dadurch die Ruhepforte eröffnen können.

Auf diese Weise verrinnt das ganze Leben, man sucht nach Ruhe, indem man irgendwelche Schwierigkeiten zu bekämpfen sucht, und wenn man sie überwunden hat, wird diese Ruhe aufgrund der Langeweile, die sie verursacht, unerträglich. Man muß der Langeweile entkommen und um Aufregung betteln; denn entweder man denkt an das Elend, das man erleidet, oder an jenes Elend, das uns bedroht. Und selbst wenn man sich nach allen Seiten ausreichend geschützt sähe, würde die Langeweile, ihrer Gewalt beraubt, nicht ablassen, vom Grunde des Herzens, wo sie ihre natürlichen Wurzeln hat, emporzukommen, um ihr Gift über den Geist auszugießen.

Jener Rat, den man Pyrrhus gab, die Ruhe zu genießen, die er durch so viele Mühen zu suchen bestrebt war [28], erfuhr zahlreiche Schwierigkeiten.

Der Tanz, bei dem man höchst darauf bedacht sein muß, wohin man die Füße setzen soll.

Der Edelmann glaubt wahrhaft, daß die Jagd ein großes und königliches Vergnügen sei, aber sein Leibjäger teilt diese Auffassung nicht.

 

B. Daher der Mensch so elend ist, daß er sich sogar ohne irgendeinen Grund zur Langeweile, durch den reinen Zustand seiner natürlichen Beschaffenheit, langweilen würde. Und er ist so leer, daß, da er von tausenderlei wesentlichen Gründen erfüllt ist, Langeweile zu empfinden, die geringste Kleinigkeit, wie etwa ein Billardspiel oder ein Ball, den er vor sich herschiebt, genügen, ihn zu zerstreuen.

 

C. Aber, werdet ihr sagen, welchen Zweck verfolgt er dabei? Keinen andern, als sich morgen im Kreise seiner Freunde zu rühmen, daß er besser gespielt habe als ein anderer. Daher schwitzen die anderen in ihrem Studierzimmer, um den Gelehrten zu zeigen, daß sie eine algebraische Aufgabe gelöst haben, deren Lösung man bis jetzt noch nicht zu finden vermocht hatte. Und soviele andere setzen sich den größten Gefahren aus, um sich hernach zu rühmen, daß sie eine Feste eingenommen haben, was nach meinem Dafürhalten ebenso töricht ist. Noch andere endlich plagen sich dabei zu Tode, indem sie all diese Dinge observieren, nicht etwa, um dadurch weiser zu werden, sondern allein um zu zeigen, daß sie all diese Dinge wissen, und ebendiese sind die Törichtesten des ganzen Haufens, weil sie ja bewußt Toren sind, während man bei den anderen davon ausgehen kann, daß sie es nicht mehr wären, wenn sie sich dessen bewußt wären.

 

Ein solcher Typus Mensch verbringt sein Leben ohne Langeweile, indem er alle Tage um eine Kleinigkeit spielt. Gebt ihm allmorgendlich soviel Geld, als er jeden Tag gewinnen kann, unter der Bedingung, daß er nicht spielen darf, und ihr macht ihn unglücklich. Man wird vielleicht sagen, daß es das Vergnügen beim Spiel und nicht der Gewinn sei, was er sucht. Laßt ihn denn ohne jeden Einsatz spielen, und er wird sich dabei nicht erregen und Langeweile empfinden. Es ist also nicht das Vergnügen allein, das er sucht; ein fades Vergnügen ohne jede Leidenschaft wird ihn langweilen. Er muß sich darüber erregen und sich selbst betrügen – indem er sich einbildet, daß er glücklich wäre, jene Summe zu gewinnen, die er nicht angenommen hätte, wenn man sie ihm unter der Bedingung, nicht zu spielen, gegeben hätte – damit er sich einen Gegenstand seiner Leidenschaft schafft und darüber sein Verlangen, seinen Zorn, seine Besorgnis für das Objekt weckt, das er sich selbst geschaffen hat, jenen Kindern gleich, die sich über die eigene Fratze erschrecken, die sie selbst hingeschmiert haben [29].

 

Woher kommt es, daß jener Mann, der vor wenigen Monaten seinen einzigen Sohn verloren hat und der, von Prozessen und allerlei Streitigkeiten bedrückt, heute Morgen noch so verstört war, nun nicht mehr daran denkt? Seid nicht erstaunt darüber; sein Wesen ist ganz davon in Anspruch genommen, zu beobachten, an welcher Stelle jene Wildsau, welche die Hunde seit sechs Stunden mit solchem Feuereifer jagen, wieder vorbeikommen wird. Es bedarf nichts weiter als das. Wie voller Betrübnis der Mensch auch sein mag, wenn man ihn für irgendeine Zerstreuung zu gewinnen vermag, so ist er während der Dauer dieser Zerstreuung glücklich; und wie glücklich der Mensch auch sein mag – wenn er nicht durch irgendwelche Leidenschaft oder irgendein Vergnügen zerstreut und beschäftigt wird, welche die Langeweile daran hindern, sich auszubreiten, so wird er gar bald betrübt und unglücklich sein. Ohne Zerstreuung keine Freude; mit der Zerstreuung keine Betrübnis! Und derselbe Umstand ist es auch, der das Glück jener Personen ausmacht, die sich in einer hohen Stellung befinden – daß sie stets zahlreiche Menschen um sich haben, die für ihre Zerstreuung sorgen, und daß sie die Macht haben, sich in demselben Zustande zu erhalten.
D. Gebt darauf acht! was bedeutet es wohl anderes, Oberaufseher, Kanzler, Erster Präsident zu sein, als sich in einer Position zu befinden, wo man des Morgens eine große Anzahl von Leuten um sich hat, die von allerwärts zu ihnen kommen, und die ihnen nicht eine einzige Stunde des Tages übrig lassen, in der sie an sich selbst denken könnten? Und wenn sie in Ungnade fallen und man sie in ihre Landhäuser schickt, wo es ihnen weder an Gütern noch an Bedienten fehlt, um sie in ihren Bedürfnissen zu unterstützen, so bewahrt sie dergleichen nicht davor, sich elend und verlassen zu fühlen, weil niemand sie daran hindert, an sich selbst zu denken.

 



[1] Gefahr der „Trägheit“ oder der „Verzweiflung“ in ersterem Fall, Gefahr der „Hochmut“ in letzterem Fall (Fragment Nr. 240).

[2] Vgl. Fragment Nr. 453 und Nr. 557.

[3] Siehe Titel des Abschnittes XII sowie von Fragment Nr. 182.

[4] Die einen ... die andern: Dieser Vergleich bringt den Zustand jenes „offenen Krieges zwischen den Menschen, wo es für jedermann gilt, Partei zu ergreifen und sich notwendig entweder zum Dogmatismus oder zum Pyrrhonismus zu bekennen“, zum Ausruck (Fragment Nr. 164).  

[5] Aufsätze, II, 3, S 353-354: „Und die Lehre, die unser Leben verachtet, ist lächerlich. Denn schließlich handelt es sich dabei ja um unser Dasein, unser Alles. Jene Dinge, welche ein höheres und reicheres Dasein haben, mögen das unsrige anklagen; doch es ist wider die Natur, daß wir uns selbst verachten und vernachlässigen; es ist eine besondere Krankheit, sich zu hassen und zu verachten, die sich bei keiner anderen Kreatur bemerklich macht. Und aufgrund derselben Eitelkeit begehren wir etwas anderes zu sein, als wir sind. Die Frucht eines derartigen Begehrens geht uns nicht auf, umso mehr, als es sich selbst widerspricht und in sich selbst unmöglich ist. Derjenige, der begehrt, von einem Menschen zum Engel gemacht zu werden, ändert damit nichts an sich, er gälte dadurch um nichts besser. Denn wenn er nicht mehr ist, wer soll sich dann für ihn dieser Veränderung erfreuen und diese empfinden? (...) Die Gewißheit, die Gleichgültigkeit, die Unempfindlichkeit, die Aufhebung der Übel dieses Lebens, die wir zum Preis unseres Todes erkaufen, verschaffen uns keine Bequemlichkeit. Jener meidet umsonst den Krieg, der sich des Friedens nicht zu erfreuen vermag; und jener flieht umsonst die Mühsal, der nichts hat, worüber er die Rast genießen kann.“  

[6] Aufsätze, I, 23, S 115-116: „Die Gesetze unseres Gewissens, von denen wir behaupten, daß sie der Natur entstammen, entspringen der Gewohnheit: jedermann, der den Anschauungen und Sitten, welche rings um ihn gebilligt und angenommen werden, innerliche Verehrung zollt, kann sich weder ohne Gewissenskonflikt von ihnen freimachen noch kann er sich ihrer ohne Beifall bedienen. (...) Und jene allgemeinen Vorstellungen, die wir in unserem Umfeld im Flor und durch die Saat unserer Väter gleichsam in unsere Seele eingeimpft vorfinden, erscheinen uns als die allgemeinen und natürlichen; wodurch geschieht, daß wir das, was außerhalb der Gewohnheit ist, auch außerhalb der Vernunft wähnen.“

[7] Aufsätze, III, 10, S 1010: „Die Gewöhnung ist eine zweite, nicht minder mächtige Natur.“

[8] „Und die Neigung, sich abseits zu halten“ (durch das Gekläff).

[9] Der Pyrrhoniker.

[10] Der Dogmatiker.

[11] Siehe Fragment Nr. 69.

[12] Einem Schritte folgend, der bereits im Gespräch mit M. de Sacy bemerklich wird, legt Pascal den Pyrrhonikern Argumente bei, welche Descartes in der ersten Schrift seiner Metaphysischen Meditationen vorgebracht hat, um alle seine früheren Auffassungen wieder in Zweifel zu ziehen (und mittels jenes gründlichen Beweises – diesmal jedoch weit abseits des Pyrrhonismus – zu einer einigermaßen sicheren und unzweifelhaften Erkenntnis zu gelangen). Descartes postuliert, neben anderen Hypothesen, daß der Mensch ein Werk des „Zufalls“ sei (ebdt., aus: Werke, AT, IX-1, S 16) und daß „ein gewisser böser Genius, nicht minder witzig und trügerisch als mächtig“, all seine Bemühungen darauf verwandt hat, ihn „irrezuführen“ (ebdt., S 17).  

[13] Das übliche Argument vom Traum findet sich ebenfalls bei Descartes: „es gibt überhaupt keine schlüssigen Beweise noch genügend sichere Merkmale, wodurch man unser Wachen deutlich vom Schlaf unterscheiden könnte“ (Meditationen,Erstes Buch, aus: Werke, AT, IX-1, S 15).

[14] Aufsätze, II, 12, S 596: „Jene, die unser Leben mit einem Traum verglichen haben, hatten Verstand, vielleicht mehr, als sie selbst dachten. Sooft wir träumen, lebt unsere Seele und handelt, übt all ihre Kräfte und Möglichkeiten, nicht mehr und nicht weniger, als wenn sie wacht. (...) Wir wachen schlafend und schlafen wachend. (...) Wenn unsere Vernunft und unsere Seele die Phantasien und Anschauungen, die in ihr während des Schlafes entstehen, empfängt, und die Handlungen unserer Träume mit demselben Einvernehmen ermächtigt, wie sie es mit den Handlungen des Tages tut, weshalb bezweifeln wir dann nicht, ob unser Denken, unser Handeln ein weiterer Traum ist und unser Zustand des Wachens eine gewisse Art des Schlummerns?“

[15] Jene der Pyrrhoniker werden in der Folge erläutert; jene der Dogmatiker wurden in Fragment Nr. 142 abgehandelt. Erinnern wir uns, daß Pascal die beiden Parteien im Gespräch mit M. de Sacy über Epiktet und Montaigne aufeinandertreffen läßt.

[16] Der Mensch ist „ungeheuerlich“ durch seine Verschiedenartigkeit: er ist gleichsam eine unvereinbare Erscheinung von „Widersprüchen“, wie die Chimäre, welche sich aus dem Kopf eines Löwen, dem Leib einer Ziege und dem Schwanz einer Schlange zusammensetzt.

[17] Aufsätze, III, 8, S 928: „Recht eigentlich sind die Hetze und die Jagd unsere Beute: wir sind nicht entschuldbar, diese schlecht und ungehörig auszuführen; die Beute zu verfehlen, ist eine andere Sache. Denn wir sind dafür geschaffen, die Wahrheit zu suchen; sie zu besitzen gebührt einer höheren Macht.“ 

[18] Aufsätze, II, 12, S 541: „die wahre und schlechthin notwendige Vernunft, deren Namen wir für falsche Lehren mißbrauchen, wohnt im Herzen Gottes; da ist ihr Hort und ihre Zuflucht, von daher kommt sie, wenn Gott es gefällt, uns damit zu erleuchten.“

[19] Pascal schrieb: „eine jener (drei) Parteien“, aus: Aufsätze, II, 12, S 502: „Jeder, der irgendetwas sucht, gelangt dabei irgendwann zu diesem [einen] Punkt: entweder er sagt, daß er es gefunden habe, oder daß er es unmöglich finden kann, oder daß er sich noch immer auf der Suche darnach befinde. Alle Philosophie ist in diese drei Arten aufgeteilt.“ Zur ersteren Art rechnet Montaigne die Anhänger des Aristoteles, die Epikureer und die Stoiker; zur zweiten Karneades, Klit(h)omachos und die Akademiker; zur dritten Xenophanes, Zenon (von Elea), Demokrit, „Pyrrhon und andere Skeptiker“ (ebdt.). Pascal verfällt auf die Idee, auf eine dreigeteilte Klassifizierung der Philosophien zurückzugreifen, diese jedoch auf die augustinische Unterscheidung der drei Leidenschaften aufzuteilen (siehe Fragment Nr. 178). Er versteht es gleichermaßen – und das ist hier der Fall – die Dreiteilung Montaignes in Dogmatiker/ Akademiker/ Pyrrhoniker auf eine Zweiteilung in Dogmatiker/ Pyrrhoniker zu reduzieren, indem er die durch die zweiten öffentlich gelehrte Unwissenheit und den stets wiederkehrenden Zweifel der dritten unter ein- und derselben Kategorie befaßt.   

[20] Im Abendland des 17. Jhdt. setzt man die Entstehung der Welt nur einige tausend Jahre vor Jesus-Christus (im allgemeinen etwa viertausend Jahre).

[21] Spr, VIII, 31 (die ewige Weisheit des Schöpfers sagt): „Meine Wonne sind die Menschenkinder.“ Joël, III, 1: „Ich werde meinen Geist ausgießen über alles Fleisch.“ Ps LXXXI, 6 (Vulgata)/ LXXXII, 6 (hebräische Version): „Ihr seid Götter und ihr alle seid Söhne des Höchsten.“

[22] Jes, XL, 6: „Alles Fleisch ist Gras.“ Ps XLVIII, 12 (XLIX, 13): „Der Mensch (...) er gleicht dem Vieh, das stumm zu Grunde geht.“ Kohelet oder Prediger, III, 18: „Ich sprach bei mir selbst, der Menschen wegen, damit Gott sie prüfe und damit sie sehen, daß sie nur Vieh sind an und für sich.“

[23] Aufsätze, I, 20, S 84: „Das Ziel unserer Lebensbahn ist der Tod, er ist das notwendige Objekt unseres Strebens: wenn er uns aber erschreckt, wie ist es dann möglich, auch nur einen einzigen Schritt ohne Unruhe vorwärts zu schreiten? Das Behelfsmittel des gewöhnlichen Menschen ist, einfach nicht an ihn zu denken. Aber zu welch fataler Torheit kann ihn eine so große Verblendung führen?“

[24] Vgl. Descartes, Meditationen, Zweites Buch: „Ich bin, ich existiere: soviel ist gewiß; aber wie lange? Nämlich ebensolange, als ich denke; denn vielleicht könnte es ja geschehen, wenn ich aufhörte zu denken, daß ich im selben Augenblick aufhören würde zu sein oder zu existieren“ (Werke, AT, IX-1, S 21).

[25] Vgl. animer im Französischen: „eine Seele in einen Körper einpflanzen, um diesem Gefühl und Leben zu verleihen“ (Furetière). Der Physiologie des 17. Jhdt. entsprechend, „ist der Fötus nicht von der Stunde seiner Entstehung an bereits beseelt“ (ebdt.).

[26] „Man erkennt hier mühelos die „beliebte“ Lesart der Beweisführung a posteriori aus dem Dritten Buch der Meditationen, wie sie jenes abgenutzte Argument von der dem Ich innewohnenden Idee des Unendlichen wiederholt, insofern das Ich sich „a parentibus productus“ („von den Eltern hervorgebracht“) erkennt“ (J.-L. Marion, Über das Metaphysische bei Descartes, Paris, PUF, 1986, S 313).  

[27] Aufsätze, II, 12, S 510: „Man muß es nicht erstaunlich finden, wenn Menschen ohne Hoffnung auf Beute nicht davon ablassen können, Vergnügen an der Jagd zu finden.“

[28] Pyrrhus, König von Epirus (3. Jhdt. v. Chr.) versuchte ohne dauerhaften Erfolg – daher der Ausdruck Pyrrhussieg – Italien und Griechenland zu erobern. Jener „Rat“, den ihm Kyneas gibt, befindet sich im Plutarch (Leben des Pyrrhus, 14), im Rabelais (Gargantua, Kapitel XXXIII) ebenso wie in den Aufsätzen, wo Pascal ihn sehr wahrscheinlich gefunden hat: „Da König Pyrrhus unternahm, Italien zu erobern, wollte Kyneas, sein kluger Ratgeber, ihn auf die Sinnlosigkeit seines Vorhabens hinweisen: ‚Nun gut, Majestät‘, frug derselbe ihn, ‚was wollt Ihr mit diesem großen Unternehmen bezwecken?‘ – ‚Mich Italiens bemeistern‘, entgegnete jener sogleich. – ‚Und dann‘, fuhr Kyneas fort, ‚wenn dergleichen geschehen ist?‘. – ‚Werde ich‘, versetzte jener, ‚Gallien und Spanien erobern‘. – ‚Und hernach?‘ – ‚Werde ich mich aufmachen, Afrika zu unterjochen, und zuletzt, wenn ich die ganze Welt unterworfen haben werde, werde ich mich ausruhen und zufrieden und in Wohlbehagen leben.‘ – ‚Bei Gott, Majestät‘, hub Kyneas erneut an, ‚sagt mir, woran es liegt, daß Ihr nicht schon von jetzt an, wenn Ihr wollt, in diesem Zustande sein mögt. Weshalb wendet Ihr Euch nicht schon jetzt, von dieser Stunde an, jenen Dingen zu, nach denen zu streben Ihr vorgebt, und erspart Euch nicht so viele Mühen und Wagnisse, die ihr dazwischenwerft?‘“ (Aufsätze, I, 42, S 267).   

[29] Das Beispiel stammt von Montaigne, Aufsätze, II, 12, S 530: „Es ist jämmerlich, daß wir uns von unseren eigenen Grimassen und Hervorbringungen ins Bockshorn jagen lassen – quod finxere, timent [=“sie erschrecken sich über ihre eigenen Erfindungen“, Lukan, Pharsalia, I, 486]- , wie die Kinder, die sich über dieselbe Fratze erschrecken, die sie einem ihrer Spielkameraden aufgemalt und angeschwärzt haben.“ Das Prinzip verrät bereits der Titel des vierten Aufsatzes des ersten Buches: Wie die Seele ihre Leidenschaften auf falsche Objekte überträgt, wenn es ihr an wahren mangelt (S 22). Jenseits von Montaigne sind diesbezüglich die stoischen Betrachtungen über die Vogelscheuche oder die Maske von Interesse (Seneca, Brief 24; Epiktet, Gespräche, II, 1).   



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